100 Jahre anderes Radio

Über emanzipatorischen Dissens und eine
Demokratisierung der Öffentlichkei
t

Wenn unsere Gesellschaft gerechter werden soll, muss auch die Öffentlich­keit, müssen die Medien gerechter werden. Wer spricht für wen? Worüber? Wer hört überhaupt zu und wer kann auf gleiche Weise antworten? Das sind seit jeher die großen Fragen emanzipa­torischer Medienkritik. Ihre Antworten waren zu allen Zeiten medienpolitische Kämpfe und praktische Experimente.

Auch heute, 40 Jahre nach der Kom­merzialisierung des Rundfunks und 30 Jahre nach der Entstehung des Internets, braucht es weiterhin andere Medienpraktiken – solche, die Kommu­nikation als Intervention in gesell­schaftliche Verhältnisse begreifen. Die aktuellen Debatten um den rasanten Wandel gesellschaftlicher Öffentlich­keit(en) und die Zukunft des Rund­funksystems wollen wir deshalb um die Möglichkeiten und Ideale einer anderen demokratischeren Radiopraxis erwei­tern.

Das Jubiläum des alten Mediums ist uns Anlass, gemeinsam mit den Akti­vist:innen der Freien Radios in der BRD und im Spannungsverhältnis von emanzipatorischem Anspruch und rauen Radiowirklichkeiten Ideen für die Zukunft auszuloten.

Am 29. Oktober 2023 wird das Radio in Deutschland 100 Jahre alt. Die Angst, die bis dato unbekannte technische Reichweite des Radios könne staats­feindliche oder gar revolutionäre Pro­zesse unterstützen, war in Deutschland von Beginn an besonders ausgeprägt. Das Selbstverständnis andererseits, den Rundfunk für die eigenen partei­politischen Ziele zu nutzen, prägte die Rundfunkpolitik bis weit in die BRD hinein und blitzt auch in den heutigen medienpolitischen Debatten immer wieder auf. Und die in den 1980ern durchgesetzte Privatisierung des Rund­funksystems öffnete kommerziellem Privatfernsehen und Formatradio Tür und Tor.

Doch gleichzeitig war und ist Radio immer auch ein Mittel zur Artikulation von emanzipatorischem Dissens. Die Forderungen nach Arbeiterradios in den 1920ern und die ab Ende der 1970er entstandenen Freien Radios sind Aus­druck davon. Sie verband das Anliegen, marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen einen größeren Zugang zu öffentlichen Debatten zu ermöglichen, sie nicht nur zuhören, sondern selbst sprechen zu lassen. 100 Jahre Radio sind deshalb auch 100 Jahre andere Radiopraktiken.

Veranstaltung 11.10.

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Wem gehört das Radio? Piratensender in Westberlin

Neue soziale Bewegungen schufen in den 1970er Jahren in der BRD eine umfangreiche linke Gegenöffentlichkeit aus nicht-kommerziellen und selbstorganisierten alternativen Medien. Sie wollten in den etablierten Medien »unterbliebene Nachrichten« verbreiten und denen zu einer eigenen medialen Stimme verhelfen, die sie sonst nicht hatten. Anders als die Gründung einer Stadt-Zeitung, eines linken Buchladens oder einer Videowerkstatt wurde das »Betreiben einer nicht genehmigten Sendeanlage« aber mit bis zu fünf Jahren Gefängnis sanktioniert. Dennoch entstand um das Jahr 1980 eine ganze Bewegung illegaler politischer Piratensender. Sie selbst nannten sich Freie Radios. Ihnen war die gesellschaftliche Reichweite der Alternativpresse zu gering und der öffentlich-rechtliche Rundfunk von den Parteien zu sehr zum Erhalt eines gesellschaftlichen Status Quo gezwungen. Bewegungs- und Aktionsradios begleiteten und koordinierten Anti-Atomproteste und Hausbesetzungen: Programmradios sendeten regelmäßig, was lokale Gruppen und Initiativen zu sagen hatten. Der Staat reagierte mit umfangreicher Repression. Einige der Sender gründeten deshalb Ende 1982 die Assoziation Freier Radios. Sie forderten anstatt der damals in der BRD erstmalig geplanten Zulassung privat-kommerzieller Rundfunkanbieter die Legalisierung nicht-kommerzieller Lokalradios. Für andere Freie Radios war dies keine Option. Sie stellten ihren Sendebetrieb lieber ein, als sich unter die Kontrolle des Staates zu begeben.

Über wenig bekannte linke Radiopraktiken diskutieren wir mit Protagonist*innen (West-) Berliner Piratensender - u. a. Radio Kebab (1981) und Radio Gaga (1985) -, Beteiligten von Radio 100 (1987-1991) sowie dem Kommunikationswissenschaftler Jan Bönkost.

Veranstaltung 12.10.

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Wem gehört das Radio? Piratensender in der DDR und Nachwendezeit

Der ab Herbst 1989 erfolgte Bruch mit der Stagnation und der zentralistischen Bevormundung in der DDR, der mit einer zeitweiligen Implosion und Infragestellung der staatlichen Apparate einherging, ermöglichten auch im Rundfunk bisher Ungewohntes. In Ost-Berlin, Erfurt, Chemnitz, Dresden und Weimar entdeckten ab Mai 1990 Initiativen aus den lokalen alternativen Szenen den Rundfunk als Sprachrohr.
Anfangs wurde bei diesen unerlaubten Ausstrahlungen häufig der relativ rechtsfreie Raum sowie die Unsicherheiten der Behörden im Umgang mit nicht genehmigten Rundfunksendern genutzt. Die nach der Übernahme bundesdeutscher Gesetze gemachten Erfahrungen der Radioinitiativen waren unterschiedlich: Das im Prenzlauer Berg beheimatete Radio P unterbrach immer wieder seine Programme und verlor seinen Sender bei Polizei-Durchsuchungen. Während Radio F.R.E.l. in Erfurt zum Abbruch seines Sendebetriebes gezwungen wurde und Radio PT in Weimar diesen nach den Einschüchterungen eines Polizeieinsatzes ganz einstellte, hatte Radio T in Chemnitz keine solchen Auseinandersetzungen zu befürchten: Der Sender verzichtete auf illegale Ausstrahlungen. Das Dresdner BRN3 hingegen war im Schutz der Masse an Besucher*innen der Bunten Republik Neustadt, einem links-alternativen Stadtteilfest, ungestört zu empfangen. Verantwortlich waren Vertreter*innen des Zusammenschlusses der Freien Radios Ostdeutschland. Sie beklagten die Ausrichtung anderer Medien an politischen und ökonomischen Interessen.

Wir diskutieren mit Protagonist*innen aus dem Umfeld des schwarzen Kanals (Ost-Berlin, 1986),von Radio F.R.E.I. (Erfurt, seit 1990), Radio PT (Weimar, 1992), Radio BRN (Dresden-Neustadt, 1992/93), sowie dem Rundfunk-Forscher Alex Körner.