Wie Oligarchen Profit aus der Pandemie schlagen
Zara Harutiunian
Die Covid-19-Pandemie erreichte Armenien mit einer gewissen Verzögerung. Der allererste Fall im Land wurde am 1. März 2020 erfasst, als sich im benachbarten Iran das Gesundheitssystem bereits im Krisenmodus befand und in Europa große Aufregung herrschte. Die Grenze zum Iran war zu dem Zeitpunkt auf dem Landweg bereits unpassierbar, doch Charterflüge fanden weiterhin statt. Mit einem solchen Flug gelangte der erste „Corona-Patient" nach Armenien. Einige Vorsichtsmaßnahmen wurden im Einklang mit den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO bereits im Januar getroffen, doch halfen diese weder bei der Aufdeckung des ersten Infizierten, noch - im frühen Stadium der Ausbreitung - in den folgenden Fällen.
Der am 28. Februar aus dem Iran eingereiste armenische Staatsbürger suchte aus freien Stücken um ärztliche Hilfe und brachte damit sein persönliches Verantwortungsbewusstsein zum Ausdruck. Er ließ sich testen und wurde daraufhin in ein Infektionskrankenhaus eingeliefert, das sich wenig später in den wichtigsten Schauplatz der Pandemie-Bekämpfung verwandelte. An die 30 Kontaktpersonen - und ein Hund - wurden in einem Fünf-Sterne-Hotel im Urlaubsort Zachkadsor untergebracht, das ehemals einem der lokalen Oligarchen gehörte. Nach der „samtenen Revolution" 2018 - und der Einführung von Strafermittlungen wegen Korruption - ging das Hotel als „Geschenk" in Staatsbesitz über. Der Symbolgehalt dieses Zusammentreffens verschiedener Umstände gibt zu denken, insbesondere im Zusammenhang mit der allseits anzutreffenden Skepsis und ironischen Grundhaltung in Bezug auf die Ausmaße der Pandemie. Davon zeugten selbst offizielle Erklärungen von Staatspersonen höchsten Ranges bis hin zu Gesundheitsminister Arsen Torosjan und Premierminister Nikol Paschanjan. Diesem Vorwurf sahen sich beide rückblickend zuhauf ausgesetzt.
Nach den Massenprotesten und dem Machtwechsel 2018, einem fragilen, aber doch sichtbaren Wirtschaftswachstum, fragmentarischer Reformen und der Initiierung von Sozialprogrammen 2019, schien für das Jahr 2020 zunächst nichts auf etwaige die Grundfeste der Gesellschaft erschütternde Großereignisse hinzudeuten. Das postrevolutionäre Armenien, das vom vorangegangenen Regime dessen fast völlig erodierte politische und soziale Institutionen geerbt hat und das völlig eingenommen ist von der langwierigen Bewältigung einer endlosen Liste unaufschiebbarer Probleme, begegnete der Pandemie mit einer gewissen Gleichgültigkeit. Mit wesentlich größerer Begeisterung und Anspannung verfolgte die armenische Gesellschaft aufsehenerregende Strafermittlungen, die nach der Revolution eingeleitet worden waren, und den zaghaften Verlauf der Reformen. Zudem stand im März die Kampagne für ein geplantes Verfassungsreferendum im Fokus. All das verdrängte sowohl internationale Nachrichten aus dem Blickfeld, als auch routinemäßige Aufrufe zu regelmäßigem Händewaschen.
Eine armenische Hochzeit
Es gelang die ersten Ausbreitungsherde rechtzeitig einzugrenzen und bis Mitte März schien die Lage nicht besorgniserregend. Doch dann fand eine Hochzeit statt. Am 13. März wurde eine Frau aus der Stadt Etschmiadsin, die aus Mailand zur Vermählung ihres Sohnes angereist war, positiv getestet. Um ihren Kindern nicht das Fest zu verderben, verbarg die Frau zunächst ihre Krankheitssymptome, verstieß gegen Quarantäneauflagen und begab sich zur Feier. Ein paar Tage darauf wurde sie mit Lungenentzündung in ein Krankenhaus eingeliefert. Über das Ausmaß des Gelages gehen die Meinungen auseinander. Sicher ist nur, dass die Zahl der Anwesenden sehr hoch war. Unter den geladenen Gästen befand sich eine Krankenschwester, die bei einer prophylaktischen Schuluntersuchung vor Ort einige Schüler*innen ansteckte. Auch infizierten sich Arbeiter*innen eines Großunternehmens, das wenig später komplett in Quarantäne ging. An der Hochzeit nahmen sogar Beschäftigte der nationalen Fluggesellschaft teil, die sich direkt am Arbeitsplatz in einem der Flughafengebäude isolierten.
Diese armenische Großhochzeit kam einem beeindruckenden Startsignal der Pandemie in Armenien gleich - innerhalb weniger Tage wurden Dutzende Neuinfektionen registriert, Hunderte Menschen begaben sich in Selbstisolation, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Kaufhäuser und Freizeitstätten wurden geschlossen, Großveranstaltungen abgesagt, Flugverbindungen gestrichen und die letzte verbliebene offene Grenze nach Georgien unpassierbar. Kurz darauf wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und das Referendum abgesagt. Trotzdem entstanden neue Ansteckungsherde. Das Gesundheitsministerium hielt sich an die Vorgaben der WHO und ließ Kontaktpersonen auf Staatskosten in Hotels und Pensionen isolieren. Infizierte kamen ins Krankenhaus. Nachdem sich offiziell 249 größtenteils mit jener Hochzeit in Verbindung stehende Personen mit dem Virus angesteckt hatten, galt ab dem 24. März ein Lockdown mit Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit, der Schließung tausender Unternehmen und der Einstellung von Verkehrsverbindungen.
Corona als Medienobjekt der Opposition
Trotz der insgesamt hohen Zustimmung für die Regierung unter Premierminister Nikol Paschinjan verfügt das postrevolutionäre Armenien über keine ihr gegenüber wohlwollend eingestellten unabhängigen Medienressourcen. Der überwiegende Teil der lokalen Medien befindet sich in direkter finanzieller Abhängigkeit von Oligarchen der alten Garde, die weiterhin Kontrolle über das nationale Kapital ausüben. Nach der Revolution von 2018 erhöhten sich sogar ihre Investitionen im Medienbereich, was sich mittlerweile in unverhohlener politischer Parteinahme ausdrückt. In der Gesellschaft dominiert die Ansicht, den Medienmarkt kontrolliere Mikael Minasjan, Schwiegersohn des Ex-Präsidenten Sersch Sargisjan und vormaliger Botschafter Armeniens im Vatikan. Gegen ihn laufen Strafermittlungen wegen Korruption, weswegen er sich vor den Behörden in Russland versteckt. Seinem Medienimperium gehört außerdem Ex-Präsident Robert Kotscharjan an, dem Verstöße gegen die verfassungsrechtliche Ordnung vorgeworfen werden. In elf von dreizehn allgemein zugänglichen Fernsehsendern hat die regierungskritische Rhetorik während der Pandemie deutlich zugenommen. Anschuldigungen, wonach die neue Regierung im Kampf gegen das Coronavirus versagt habe, ertönten sogar zu einem Zeitpunkt, als sich die Lage keinesfalls außer Kontrolle befand. Fernsehdebatten und Interviews heizten die Stimmung an und richteten sich gegen die Akzeptanz der geltenden Anti-Corona-Maßnahmen oder stellten sogar die Existenz des Virus in Frage.
Aufrufe derartige Auseinandersetzungen zeitweilig einzustellen, um mit vereinten Kräften gegen das Virus vorzugehen, wirkten angesichts dieser Machtkonstellationen naiv. Ein Publikationsverbot für medizinische Informationen ohne Bezugnahme auf offizielle Quellen werteten Regierungskritiker*innen als Einschränkung der Redefreiheit. Der offene Umgang des Staates mit der Bevölkerung in der Corona-Frage tauchte in den Nachrichten traditionell als Anzeichen von Schwäche der neuen Regierung auf. Dennoch blieb das Vertrauen in die offiziellen Quellen beeindruckend hoch, was wohl nicht zuletzt an der transparenten Vorgehensweise lag. Die staatlichen Behörden versuchten nicht einmal im Ansatz ihre eigene prekäre Lage zu beschönigen – auch nicht vor dem Hintergrund einer aufgrund vieler Unwägbarkeiten beängstigenden Pandemie.
Wirtschaftliche Folgen und Armut
Dazu kommt, wie auch anderswo, die ökonomische Perspektivlosigkeit. 23,5 Prozent der Bevölkerung Armeniens lebt offiziell unter der Armutsgrenze und ein Großteil ist von Armut bedroht. Die Pandemie nimmt ausgerechnet die Schwachen in die Zange und die Entscheidung, das wirtschaftliche Leben enorm einzuschränken, mutet deshalb ambivalent an. Vor diesem Hintergrund trat die allgemeine Misere des armenischen Arbeitsmarktes und die Ohnmacht des Staates gegenüber großen Arbeitgeber*innen und lokalen Feudalherren deutlich hervor.
So erklärte beispielsweise der Oligarch und damalige Anführer der Oppositionsfraktion „Blühendes Armenien", Gagik Tsarukjan, während des Lockdowns, dass er die Lohnkosten während der Corona-bedingten Zwangsauszeit nicht übernehmen werde. Er zahlte tatsächlich nicht, wobei ihm die schwammig formulierten Vorgaben des Arbeitsrechts zugutekamen. Die Leitung eines seiner Gewerbezentren erzwang per Drohung Mietzahlungen in vollem Umfang sogar für im Rahmen der Anti-Corona-Maßnahmen geschlossene Pavillons. Auch Beschäftigte einer Supermarktkette mussten zwangsweise unbezahlten Urlaub nehmen. Der größte Textilhersteller im Land „Gloria" weigerte sich nicht nur Löhne weiter zu bezahlen, sondern zwang die Arbeiterinnen sogar zur Teilnahme an Protesten gegen die Corona-Beschränkungen. Zwar hatte dies Strafen gegen die Leitungsebene und einige der Protestteilnehmerinnen zur Folge, aber der Direktor drohte an, die ganze Fabrik zu schließen und die Produktion in ein anderes Land zu verlegen, sollte die Regierung die erlassenen Beschränkungen nicht aufheben. Andere Betriebe setzten ihre Arbeitsabläufe uneingeschränkt fort. So auch die Werkstätten des Oligarchen Samwel Aleksanjan, ehemaliger Abgeordneter der vor der Revolution regierenden Republikanischen Partei. Dort musste die Belegschaft während des Lockdowns teils ohne Zuschläge bis zu 16 oder sogar 18 Stunden pro Tag schuften.
Diesen skandalösen Verstößen gegen das Arbeitsrecht begegnete die Regierung mit Ratlosigkeit. Es stellte sich heraus, dass der Staat seit 2013 über keinerlei Vollmachten zur Regulierung arbeitsrechtlicher Fragen verfügt. Zwar wurden Ende 2019 Gesetzesveränderungen zur partiellen Wiederherstellung der staatlichen Aufsichtsfunktion beschlossen, doch werden diese erst im Juli 2021 wirksam. Arbeitsminister Zarui Batojan rief die Betroffenen dazu auf, vor Gericht zu ziehen, doch blieben solche Klagen absolute Ausnahmen. Immerhin bemühte sich die Regierung nun um eine Neuregelung des Arbeitsrechts, doch die Reformen zogen sich in die Länge und kamen nicht zum Tragen. Kleineren und mittleren Betrieben fehlten für Ausgleichszahlungen notwendige Rücklagen. Zudem standen sie meist selber kurz vor dem Bankrott, während die großen Unternehmen ihren Verpflichtungen nicht nachkamen. Der Staat sanktionierte dieses Vorgehen und sprang selber in die Bresche, wobei die verwendeten Mittel überwiegend aus dem Reservefonds entstammen.
Tatsächlich nahmen die Fördermaßnahmen für Armeniens geringen Staatshaushalt beeindruckende Ausmaße an. Infolge des Lockdown legte die Regierung 22 Sozialprogramme gegen die aktuelle Krise auf. Beispielsweise enthalten sie einmalige Zahlungen für jüngst arbeitslos gewordene Eltern von umgerechnet rund 200 Dollar pro minderjährigem Kind. Für Langzeitarbeitlose lag der Betrag bei 55 Dollar, für Schwangere bei 200 Dollar. Alle anderen offiziell arbeitslos gemeldeten privat Beschäftigten, die währende des Lockdowns ihre Tätigkeit nicht ausüben konnten, durften zweimal einen Anspruch auf Unterstützung in Höhe des Mindestlohns von 140 Dollar geltend machen. Für besonders von den Anti-Corona-Maßnahmen betroffene Branchen, wie Handel oder Tourismus, gab es ebenfalls Ausgleichszahlungen. Außerdem bezuschusste der Staat für den Monat Februar Ausgaben für Wohnnebenkosten. Wer auf diese Form der Subvention nicht angewiesen war, sollte den fälligen Betrag in einen speziellen Corona-Hilfs-Fonds einbezahlen oder aber damit bedürftige Nachbarn und Angehörige unterstützen. Selbst für Umweltschutzprogramme gab es Fördermittel, die als Nebeneffekt Saisonarbeitsplätze in ländlichen Gebieten sichern sollten. Nach offiziellen Angaben sank die Arbeitslosenquote von knapp zwanzig Prozent im ersten Quartal auf 17,5 im zweiten. Im Weiteren galten gesonderte Bedingungen für günstige Kredite zugunsten von Klein- und mittelständischen Betrieben. So sollten durch Prämienzahlungen spezielle Anreize geschaffen werden, Personal nicht zu entlassen oder sogar zusätzlich Einstellungen von Arbeitslosen vorzunehmen. Für ein Land mit einem Jahreshaushalt von weniger als vier Milliarden Dollar, der überdies ein Defizit von 380 Millionen Dollar aufweist, bedeutet das eine enorme Belastung. Gelöst haben diese Maßnahmen die Probleme letztlich auch nicht. Zudem fehlten die Rücküberweisungen von im Ausland Beschäftigten, weil jene oft selbst ihr Einkommen verloren hatten und mit nicht selten kostenlosen Charterflügen vor allem aus Russland nach Armenien zurückgekehrt waren. Während Staatsangestellte trotz Gehaltsfortzahlung und die kleine Mittelklasse im Homeoffice über Isolation klagten, erlebten andere gesellschaftliche Gruppen den Lockdown an der Grenze des Zumutbaren. Das rief Proteste gegen die Anti-Corona-Maßnahmen hervor, angeheizt von den oppositionellen Medien.
Gesundheitswesen
Das seit den 1990er Jahren weitgehend privatisierte und profitorientiert arbeitende Gesundheitswesen geriet angesichts rasant steigender Neuinfektionen zeitweise an seine Grenzen. Da es nicht mehr gelang, Ansteckungsketten nachzuverfolgen, änderte die Regierung ihre Taktik und setzte auf die Eigenverantwortung der Bevölkerung sich im Verdachtsfall selbst zu isolieren, anstatt einer Unterbringung in Krankenhäusern und Quarantänezentren. Seit der Revolution von 2018 arbeitet die Regierung allerdings an einer Reform der medizinischen Versorgung und die Anstrengungen des Gesundheitsministeriums während der Pandemie sind durchaus beeindruckend. Dennoch weist Armenien von allen Ländern im Südkaukasus mit rund 114 000 Fällen (Stand Mitte November) bei einer Bevölkerung von weniger als drei Millionen die weitaus höchste Infektionsrate auf. Insofern fällt die Zwischenbilanz wenig tröstlich aus.
Die hier dargestellten Sachverhalte bilden die Situation bis zum Spätsommer ab. Der Beginn der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach Ende September stellte allerdings eine einschneidende Zäsur dar. Alle Reformbemühungen, auch jene im Bereich der Gesundheitsversorgung und der Pandemie-Bekämpfung, wurden durch den Krieg auf einen Schlag zunichtegemacht. Was in den vergangenen zwei Jahren und sogar in den Jahrzehnten zuvor aufgebaut worden war, wird vor diesem Hintergrund in absehbarer Zeit wohl kaum sichtbare Effekte hervorbringen.