Der Status quo des irakischen Gesundheitswesens
Shawk Alani
Die irakische Regierung hat das Gesundheitssystem stets vernachlässigt. Während der einschneidenden Sanktionen der 1990er Jahre wurden 90% der Haushaltsmittel für das Gesundheitswesen gestrichen - ein Umstand, der nach Ende der Sanktionen nie wieder aufgehoben wurde.[1] Aufeinander folgende Kriege haben zu einer dramatischen Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus dem medizinischen Bereich geführt. Es mangelt an vernünftigen Verwaltungsabläufen und Rechenschaftspflicht, da Korruption im Irak weit verbreitet ist. Zu diesen Herausforderungen kommen noch erhebliche psychologische und mentale Auswirkungen auf die Gesundheit durch den US-geführten Einmarsch 2003, Krieg und die allseits präsente Gewalt dazu.
Mit mehr als 548.000 bestätigten Covid-19- Fällen im Land[2] ist der Druck auf die mit öffentlichen Geldern finanzierten Krankenhäuser im Irak sehr hoch. Unmittelbar vor dem Ausbruch der Pandemie waren Iraker*innen aus allen Teilen des Landes, vor allem aber aus Bagdad und den südlichen Provinzen, vier Monate lang auf die Straßen gegangen und hatten zentrale Plätze besetzt wie den Tahrir-Platz in Bagdad oder den Haboubi-Platz in Nasiriya. Die Proteste brachen die Tabus und Ängste, sich offen gegen den Staat und die religiösen Institutionen zu positionieren, die seit 2003 den irakischen Staatshaushalt ausgeblutet haben. Der Staat reagierte mit Gewalt: Über 700 Menschen wurden von polizeilicher Sondereinheiten getötet, die unter anderem mit Tränengasgranaten gezielt auf die Köpfe der Protestierenden schossen. Hunderte weitere wurden von Regierungsbehörden und Milizen angegriffen, bedroht oder sogar entführt, viele von ihnen werden noch immer vermisst. Die Regierung streitet ihre Verantwortung für diese Verbrechen ab und kommt ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nach, nämlich mit entschiedenen Maßnahmen die irakische Bevölkerung zu schützen. Das Misstrauen der Iraker*innen gegenüber ihrer Regierung hat nach den Gewaltexzessen des Aufstandes im Oktober 2019 einen neuen Höchststand erreicht.
Die Ironie der Fürsorge durch die Regierung
Das wirkt sich auch auf darauf aus, wie ernst die Bevölkerung die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung nimmt. Diese hatte am 17. März 2020[3] eine totale Ausgangssperre verhängt, die am 21.April 2020[4] in eine nächtliche Ausgangssperre (von 19:00 bis 6:00 Uhr) umgewandelt wurde. Die Zeitspanne dieser begrenzten Ausgangssperre änderten sich in den folgenden Monaten mehrere Male, bis der Lockdown im September 2020 aufgehoben wurde. Allerdings unterstellten viele angesichts ihrer vorherigen Erfahrungen, dass die Ausgangssperre nicht nur eine präventive Gesundheitsmaßnahme war, sondern eine Form politischer Kontrolle: Während der ersten zehn Tage des Oktoberaufstandes 2019 war eine Ausgangssperre verhängt und das Internet abgeschaltet worden, um zu verschleiern, wie brutal die Sicherheitskräfte vorgingen und politische Aktivist*innen daran zu hindern, miteinander zu kommunizieren. Während der sogenannten Oktoberrevolution füllten sich die Straßen allnächtlich mit Menschen jeden Alters, die mit lauter Musik durch die Stadt fuhren und Tanzparties veranstalteten, um dieser Form der Kontrolle die Stirn zu bieten.
Die hellblauen chirurgischen Masken, die zum Symbol des Oktoberaufstands geworden waren, weil die Protestierenden sie als ein billiges und simples Mittel gegen das Tränengas der Regierung einsetzten, werden nun von manchen als Corona-Schutz in der Öffentlichkeit getragen. Es gibt jedoch keine Verpflichtung zum Tragen von Masken, und diese ließe sich angesichts der Vorgeschichte auch schwerlich umsetzen: Es ist nicht schwer zu verstehen, dass Menschen einer Regierung, die im Oktober und November 2019 Tausenden von Iraker*innen mit Tränengas die Luft zum Atmen nahm, und die nur ein paar Monate später dieselben Bürger*innen bittet, zu ihrem eigenen Schutz Masken zu tragen. So begegnen viele Iraker*innen dem mit Wut, Misstrauen, einer größtenteils gleichgültigen Reaktion auf die Pandemie und Trotz. Diese Trotzhaltung ist so stark ausgeprägt, dass Einzelne so weit gehen, Tote auf dem von der Regierung ausgewiesenen Covid-19 Friedhof auszugraben, um sie mit anderen Familienangehörigen oder an Stätten, an denen sie die Gräber besuchen können, erneut zu bestatten.
Vor den Neujahresfeierlichkeiten hatte das irakische Gesundheitsministerium einen abendlichen und nächtlichen Lockdown empfohlen. Während zunächst Verwirrung über die Bindungskraft einer solchen Empfehlung herrschte, zeigten die vollen Restaurants und Straßen am Silvesterabend, dass diese keine Durchsetzungskraft hat.
Zu Beginn des Jahres 2021 hat der Gesundheitsminister angekündigt, dass der Irak bald mit Corona-Impfungen beginnen würde, erst Anfang Dezember war man mit der Global Vaccine Alliance zu einer Übereinkunft gekommen, die es dem Land erlauben würde Impfstoff für 20% seiner Bevölkerung zu sichern.[5] Mitte Januar folgte dann die Notfallgenehmigung eines britischen und chinesischen Impfstoffs[6]. Dennoch verbreiten sich auch in der irakischen Gesellschaft, die Annahme, dass die Gefahren einer Impfung höher sein könnten, als ihr Schutz. Diese Vorstellung wird durch die unklaren tatsächlichen Ansteckungs- und Todeszahlen durch Covid-19 verstärkt, wonach der Irak trotz allem nicht so schlimm dran sei, wie viele europäischen Staaten und deswegen der Glaube bei einigen existiert, dass Iraker*innen immuner seien. Die Impfdosen für acht Millionen Iraker*innen sollen zentral vom Gesundheitsministerium entsprechend der Einwohner*innenzahlen auf alle 18 Provinzen gleichmäßig verteilt werden - die autonomen Region Kurdistan eingeschlossen.
Community Care im Irak zu Zeiten von Corona
Eine der katastrophalsten Folgen des Lockdowns in den Städten bestand im Verlust der täglichen Arbeit für Iraker*innen, deren Einkommen von prekären Beschäftigungsverhältnissen abhängt. Mit über 60% im informellen Sektor[7] beschäftigten Iraker*innen ist die ohnehin risikobelastete Bevölkerung langfristig Hunger und Verarmung ausgesetzt. In der Anfangsphase des Ausbruches der Corona-Pandemie (März-Mai) gab es viele Kampagnen, die diejenigen Gemeinden unterstützten, die finanziell am stärksten betroffen waren.[8] Freiwillige bildeten in der Zeit von 2015- 2017 als es zu einem Anstieg von Geflüchteten aus Mosul und anderen ISIS- besetzten Gebieten kam Gruppen wie das „Iraq Hope Team”. Diese Gruppen sammelten Spenden für die Vertriebenen. Da Iraker*innen schon seit Jahren von ihrer Regierung im Stich gelassen werden, haben sich im Lauf der Zeit bereits viele alternative gesellschaftliche Teilhabestrukturen entwickelt. Diese Netzwerke der selbstorganisierten Unterstützung existieren seit den großangelegten ökonomischen Sanktionen, die 1990 von den Vereinten Nationen verhängt wurden. Die gemeinschaftliche Unterstützung und Solidarität bilden das gesellschaftliche Fundament, welches die Iraker*innen am Leben hält und dafür sorgt, dass sie es schaffen, ihren schwierigen Alltag zu meistern.
Grand Ayatollah al-Sistani, der wichtigste geistliche Führer der irakischen Schiiten und sozialer Referenzgeber, veröffentlichte eine Stellungsname, in der er die Bevölkerung dazu aufrief, den Betroffenen in ihren Gemeinden beiseite zu stehen und zu helfen.[9] Sistani wies an, dass in Bezug auf Corona Verantwortung zu tragen „eine kollektive Verpflichtung derjenigen Mitglieder einer Gemeinschaft ist, die in der Lage sind, Beiträge leisten zu können.“ In einer anderen Stellungsname schrieb er, dass die „guten Samariter“ unter uns Iraker*innen, die finanziell dazu in der Lage seien, ihre Mitbrüder finanziell unterstützen sollten und dass die Jugend ihre Zeit freiwillig dafür verwenden sollte, Hilfsgüter an betroffene Familien auszuliefern. Sistani beschwört mit seinen Stellungnahmen die jüngsten Erinnerungen an die kollektiven Anstrengungen im Kampf gegen ISIS im Irak und bittet darum, im Kampf gegen die Corona-Pandemie ähnlich aktiv zu sein.[10]
Der 24-jährige Apotheker Omar, der in Bagdad lebt, kümmert sich um seinen älteren Nachbarn, der 20 Tagen mit dem Virus infiziert war.[11] „Ich wurde von meinem Bruder Ali angerufen, der auch Apotheker ist und der mir mitteilte, dass unser Nachbar Badry sehr krank ist. Ich verließ sofort meinen Arbeitsplatz und eilte mit Antibiotika gegen sekundäre Infektionen zu ihm. Seitdem wachen wir rund um die Uhr über ihn. Bislang war er schon dreimal in einem höchst kritischen Zustand.“ Badrys Kinder, die im Ausland leben, befanden gemeinsam mit den beiden Apothekern Omar und Ali, dass sie ihn einem zu hohen Risiko aussetzten, würden sie ihn in ein Krankenhaus bringen. Aufgrund der hohen Dichte von Patient*innen, der Virenlast, der unsachgemäßen Versorgung, der schlechten Sanitärbedingungen und dem Mangel an Sauerstoffflaschen sind Krankenhäuser zu Hauptverbreitern des Coronavirus geworden. Viele Iraker*innen, die vermuten, sich infiziert zu haben, gehen solange nicht ins Krankenhaus, bis sich ihre Symptome äußerst verschlechtert haben. Selbst dann geben diejenigen, die es ich leisten können, lieber tausende Dollar aus, um sich die benötigten Maschinen und Medizin selbst zu kaufen, anstatt sich in einem Krankenhaus behandeln zu lassen.
Badry hat Diabetes, COPD, Bluthochdruck und ein Nierenleiden, was in den letzten 20 Tagen, in denen die beiden Brüder sich um ihn kümmerten, viele Komplikationen verursacht hat. „Wir sind Apotheker, und obwohl wir viele Bekannte in den Bagdader pharmazeutischen Warenlagern haben, ist es noch immer sehr schwer, an die benötigte Medizin zu gelangen. Man stelle sich also die Situation für eine durchschnittliche Person vor, die dieselben Mittel braucht.“ Omar erklärte, dass sie bei über 20 Apotheken nachgefragt haben und einen ganzen Tag kreuz und quer durch die Stadt fahren mussten, bis sie das Blutverdünnungsmittel gefunden hatten, mit dem man eine Lungenembolie bekämpft – die erste Todesursache bei an Covid-19 erkrankten Menschen. In einer lokalen Moschee fanden die Brüder eine Sauerstoffflasche, die anonym von einer großzügigen Person gespendet worden war. Omar erklärt: „Eine Sauerstoffflasche kostet 250$, antivirale Medikamente aus Russland kosten 230$, die Kosten für alle weiteren Medikamente könnten sich auf bis zu 650$ belaufen und für Bluttests mussten in den vergangenen 20 Tagen 550$ bezahlt werden.“ Dies sind erhebliche Ausgaben, die durchschnittliche Iraker*innen sich nicht leisten können. „Als er das erste Mal in einen sehr kritischen Zustand fiel, waren seine Sauerstoffwerte auf 79% gesunken. Ich musste ihm beim Sterben zusehen; es war, als würde er ertrinken. Danach musste ich ins Bad gehen und mich übergeben, weil sie Situation so schwer zu ertragen war.“
Auch wenn diese Netzwerke der Nachbarschaftsunterstützung ein Vakuum füllen und in dieser Situation dringlich benötigt werden, können sie nicht die medizinische Infrastruktur ersetzen. In einem Land, dessen Gemeinden durch Jahre der Gewalt, Zwangsvertreibungen, eine sektiererische Rhetorik und Vernachlässigung durch den Staat auseinandergerissen wurde, bauen die Iraker*innen wieder einmal ein Netz der internen Solidarität auf, um diese Phase des Leids zu überleben.
Während die Corona-Pandemie nun in ihrem neunten Monat voranschreitet, sind die meisten Menschen wieder zu ihren normalen oder semi-normalen Leben zurückgekehrt. Mit der Entscheidung der irakischen Zentralbank Ende Dezember 2020 den irakischen Dinar gegenüber dem US-Dollar abzuwerten[12] und der damit verbundenen Preissteigerung von Lebensmitteln bei gleichbleibenden Löhnen, führen dazu, dass es vor allem die ökonomischen Aspekte sind, die die Iraker*innen belasten.