Wer schon einmal bei einem der unzähligen Stadtspaziergänge mitgelaufen ist, kennt sicher das Gefühl, spätestens nach zwei Stunden nicht mehr zuhören zu können, sich satt und überfüttert zu fühlen. Zu viele Informationen in zu kurzer Zeit. Zu wenig Zeit, um das ganze sacken zu lassen, zu verarbeiten und in die eigenen Wissensnetze einzuflechten.
Am Anfang war das Bedürfnis. Während wir mit einer Gruppe interessierter Frauen und Männer durch die Stadt flanieren „Auf den Spuren von Frauen, die Berlin bewegt haben“, sehnten wir uns nach mehr Interaktion: sowohl zwischen uns und den Teilnehmenden als auch innerhalb der Gruppe. Das ließ sich herstellen durch Fragen in unseren Inputs und kleine Dialogimpulse für die Wegstrecken, die wir von Station zu Station immer wieder zurücklegen – zu Fuß oder mit Bus und Bahn. Unbefriedigend blieb aber, dass die Teilnehmenden sich nicht in Stille mit dem eigenen Erleben verbinden konnten. So ploppte das zweite Bedürfnis auf. Bei einer Stadtführung ist die Gruppe permanent im Modus des Einatmens, im Aufnehmen gebündelter Informationen zu den oft sehr wechselhaften Biografien. Darum wollten wir eine Möglichkeit zum Ausatmen schaffen. Das Schreiben ist hier eine willkommene Möglichkeit, ins Nachdenken und Nachspüren zu kommen, sich mit den eigenen Gedanken und Gefühlen auseinanderzusetzen und in Beziehung zu den gehörten Geschichten zu treten. Also entwickelten meine Kollegin und Freundin Kathrin Möller und ich Ideen, wie wir kleine Schreibeinheiten in das Setting von Stadtspaziergängen einbinden könnten.
Beispiel Rosa Luxemburg
Was heißt das konkret? Wenn wir beispielsweise auf den Spuren von Rosa Luxemburg wandeln, starten wir an einem Ort, an dem einst das Berliner Frauengefängnis stand und an dem sie mehrfach eingesperrt war. Dort steigen wir nach kurzer Begrüßung und Orientierung sofort ins Schreiben ein. Alle können sich auf dem Mäuerchen vor der Gedenktafel für Rosa gemütlich niederlassen und einen 5minütigen Schreibsprint verfassen zu der Frage: Wo bin ich in meinem Leben angeeckt, wo war ich aufmüpfig, habe mich nicht angepasst – und welche Konsequenzen hatte das? Aus dem so enstandenen Text lassen wir einen Essenzsatz bilden – und wer möchte, kann ihn vorlesen.
Der Weg zur nächsten Station ist relativ weit, so dass wir die Teilnehmenden bitten, den etwa 20minütigen Spaziergang zu nutzen, um sich in spontan gebildeten Zweiergruppen über das Geschriebene auszutauschen und Erkenntnisse zu teilen. Durch das Gehen, den Schwung, die Bewegung und die Tatsache, dass man sich nicht anschaut, sondern nach vorne auf den Weg, fällt es nach unserer Erfahrung den meisten Teilnehmenden leicht, sich zu öffnen und einem fremden Menschen persönliche Geschichten aus dem eigenen Leben zu erzählen. Das kann die schmerzliche Erkenntnis sein, bisher zu angepasst gewesen zu sein. Oder das Gegenteil: das Anecken zum Prinzip erhoben und zu viel gekämpft zu haben. Oder ganz anders: vielleicht fühlt sich die eine oder der andere durch Rosas kämpferische Lebenshaltung inspiriert, bei einer anstehenden Verhandlung die eigenen Interessen kraftvoller und klarer zu vertreten.
Natürlich lässt sich in diesem Setting nicht sauber beurteilen, wie groß der Einfluss des Gehens ist auf den Grad an Öffnung, auf die Reflexionstiefe und den Erkenntnisreichtum beim Schreiben und Austauschen. Aber wesentlich erscheint uns, diese Räume für Reflexion, Verarbeitung und Rückzug überhaupt zu bieten im Rahmen eines solchen Stadtspaziergangs entlang einer Biografie. Und ebenso das Öffnen danach für Begegnung. Klares Prinzip dabei: alles kann, nichts muss. Immer wieder möchten manche Teilnehmende nichts schreiben oder nicht in den Austausch gehen. Auch das darf sein. Bei einer Gruppe von oft über 20 Leuten treffen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen aufeinander. Wir verstehen unsere Impulse als Angebot, nicht als Pflicht.
Wie Denken und Schreiben zusammen wirken
Die Literatur ist voll von Zitaten zum Thema Gehen und Denken bzw. Gehen und Schreiben. So sagte schon Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert:
„Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze; mein Geist rührt sich nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen.“
Oder Nietzsche ein paar hundert Jahre später:
„So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung.“
Noch deutlicher wird der zeitgenössische französische Philosoph Michel Serres:
„Ich denke, Wandern ohne Singen taugt nichts, und Schreiben ohne umherzugehen erscheint mir schlicht unmöglich. Ich sage es noch einmal und bleibe dabei: man schreibt mit den Füßen.“
Warum wird dennoch in der Realität so wenig mit den Füßen geschrieben? Wie kommt es, dass dieses uralte Wissen verloren gegangen zu sein scheint? Dass wir es den Kindern in der Schule sogar tendenziell abtrainieren?
In der abendländischen Kultur hat die strikte Trennung zwischen Körper und Geist unglücklicherweise eine lange Tradition. Darum lässt sich nicht so leicht an ihr rütteln. Seit der Aufklärung hat die Ratio ihren Siegeszug angetreten und andere Aspekte unseres Seins wie den Körper und die Emotionen auf die hinteren Plätze verbannt. Was damals vielleicht seine Berechtigung hatte – den Verstand erstrahlen zu lassen, um aus dem Dunkel der Unmündigkeit herauszutreten – damit haben wir heute, so viele Jahrhunderte später, zu kämpfen. Egal ob Menschen in dezidiert schreibenden Berufen wie Journalismus, PR, Schriftstellerei oder solche, die im Beruf auch Texte verfassen müssen – sie alle finden wir eher nicht in Wandelhallen, im Park oder gar im Gebirge, sie alle sitzen mehr oder weniger gebeugt am Schreibtisch und tippen ihre Zeichen in die Tastatur. Mit den Fingern als einzigen bewegten Gliedern.
Wie die Evolution Gehirne entwickelte, um Fortbewegung zu ermöglichen
Dabei hat bereits Aristoteles mit seinen Schüler*innen (auch im antiken Griechenland gab es zahlreiche Philosophinnen wie Arete von Kyrene, Phintys aus Sparta oder Aesara von Lukanien) das philosophische Gespräch in den Säulenhallen seiner Akademie praktiziert – wohl wissend, dass der Gewinn nicht allein in der frischen Luft liegt, sondern auch im Bewegen des Körpers. Die Hirnforschung belegt mit ihrer sehr jungen Disziplin, der Bewegungsneurowissenschaft, das alte aristotelische Erfahrungswissen aufs schönste: Bewegung beeinflusst ganz direkt unser Gedächtnis, indem sie auf Struktur und Funktion des Gehirns einwirkt und so das Lernen fördert. Durch flottes Gehen beispielsweise trainiert man also nicht nur den Körper, sondern auch die Anpassungsfähigkeit und somit die Plastizität des Geistes (Walk, 2011). Der Neurowissenschaftler Gerd Kempermann geht sogar so weit zu sagen:
„Gehirne, oder präziser gesagt, Nervensysteme, kommen in der Evolution auf, um Bewegung zu ermöglichen. […] Ein Gehirn kann letztlich auch nichts anderes als motorischen Output. Das mag die Philosophen schockieren, weil sie natürlich traditionellerweise Bewegung für etwas Niederes halten, aber auch schreiben oder reden ist ja Motorik… Und die grundlegendste Motorik ist die Ortsbewegung. In diesem Sinne ist das Gehirn entstanden, damit wir uns bewegen können.“
(Newmark, 2018).
Wie auch die Emotionen integriert werden können
Ohne diese Zusammenhänge bewusst zu haben, entwickelten wir unser Konzept, das vom Menschsein nicht zu trennende Gehen mit der relativ jungen Kulturtechnik Schreiben zu verbinden. Die überwiegend begeisterten Feedbacks zeigen uns über die Jahre, dass das Konzept aufgeht. Besonders die kleinen Gelegenheiten für Innenschau beim Schreiben und Selbstmitteilung beim Austauschen böten die Chance zum Nachdenken, zum Besinnen und für Aha-Erlebnisse. Zudem lockert es den Ablauf eines Flanierens durch die Stadt auf, sorgt für Abwechslung und Ruhepausen. Es führt auch dazu, dass wir immer wieder neue Orte aufspüren, an denen eine so große Gruppe sitzen kann zum Schreiben. Um das Schreiben unterwegs zu erleichtern, halten wir außerdem immer eine Anzahl Klemmbretter bereit.
Die moderne Hirnforschung beschreibt drei Eckpfeiler für nachhaltiges Lernen: Emotionen, Gemeinschaft und Bewegung. Die letzten beiden sind beim Setting von Stadtspaziergängen gegeben – man bewegt sich in Gruppe zu Fuß quer durch die Stadt. Aber was ist mit den Emotionen? Wie bereits erwähnt, stehen sie in unserer Kultur ohnehin nicht hoch im Kurs. Stadtrundgänge boomen seit Jahren, dennoch leben die meisten von reiner Wissensvermittlung. Ähnlich wie das Schulsystem, das seit Jahren darum ringt, den Frontalunterricht aufzulockern und die Kinder und Jugendlichen mehr einzubeziehen. Bei den Stadtspaziergängen bieten unsere Schreibimpulse, die wir unterwegs an einzelnen Stationen geben, auch die Chance, gehirngerechter zu arbeiten sowie Emotionen und Erfahrungen zu integrieren: Der Körper gilt als Bühne für die Emotionen. Das hat einen angenehmen Nebeneffekt: es macht die Spaziergänge auch für uns als Anleitende interessanter.
Beispiel Christa Wolf
Um noch deutlicher zu machen, wie die Kombination aus Gehen und Schreiben aussehen kann, ein weiteres Beispiel von einem Spaziergang auf den Spuren von Christa Wolf. An ihrem letzten Wohnort am Pankower Amalienpark stehen Bänke unter weit ausladenden Bäumen – dort lesen wir als Impuls ein Zitat der Schriftstellerin vor:
"Als wir 15, 16 waren, mussten wir uns unter dem niederschmetternden Eindruck der ganzen Wahrheit über den deutschen Faschismus von denen abstoßen, die in diesen zwölf Jahren nach unserer Meinung durch Dabeisein, Mitmachen, Schweigen schuldig geworden waren. […] Uns wurde dann ein verlockendes Angebot gemacht: Ihr könnt, hieß es, eure mögliche, noch nicht verwirklichte Teilhabe an dieser nationalen Schuld loswerden oder abtragen, indem ihr aktiv am Aufbau der neuen Gesellschaft teilnehmt"
(Böthig, 2004).
Im Anschluss bitten wir die Gruppe, einen Text zu verfassen, der mit dem gleichen Halbsatz beginnt: „Als wir 15, 16 waren, …“ Die Teilnehmenden sollen sich in die Zeit ihrer Jugend zurückversetzen und nachsinnen, ob sie ebenfalls einen Generationauftrag gespürt haben so wie Christa Wolf – ausgesprochen oder unausgesprochen. Bei ihr fiel diese Zeit auf das Ende des Zweiten Weltkriegs, und da sie in der sowjetisch besetzten Zone lebte, fühlte sie sich stark berufen, an der Gestaltung der neuen sozialistischen Gesellschaft, der späteren DDR, mitzuwirken. Für sie war diese Zeit voller Schrecken über das Vergangene und gleichzeitig voller Euphorie über die verheißungsvollen Möglichkeiten der Zukunft. Das nehmen wir als Inspiration, über die emotionale Färbung unserer eigenen Jugend nachzudenken.
Wie wir der Hand die Gelegenheit zum Spielen geben
Über einen weiteren wesentlichen Aspekt des Schreibens auf Stadtrundgängen hat der kanadische Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan den berühmten Satz geprägt: „The Medium is the message“ – was so viel heißt wie „Das Medium wirkt stärker als sein Inhalt.“ Wir setzen bewusst nicht auf Tablets oder Smartphones für die Schreibübungen, sondern möchten uns den Effekt des Schreibens von Hand zunutze machen. Wir möchten „der Hand die Gelegenheit zum Spielen geben“, wie Cornelia Funke einmal in einem Interview gesagt hat. Die Schriftstellerin schreibt seit zwölf Jahren alle ihre Bücher mit der Hand. Auch die Forschung bestätigt: Das Schreiben per Hand verlangsamt uns nicht nur bewusst, es lässt uns die Inhalte auch sinnlich erfassen. Über die Rückkopplung der motorischen Aktivität zum Gehirn werden Denkprozesse angestoßen sowie Selbstreflexion und Erinnern gefördert. Diesen kleinen Trick setzen wir bewusst ein, um zu bewegenderen Ergebnissen zu kommen. Dazu Michel Serres noch einmal:
2Der Körper desjenigen, der vor seinem Computer sitzen bleibt, beginnt verloren zu gehen, er wird abwesend. Doch sobald man sich erhebt und losläuft, aktiviert sich der eigene Körper".
Welche kreativen Impulse sich bewährt haben
Die Schreibimpulse, die wir anbieten, sind meistens assoziativ, oft auch in lyrisch gebundener Form oder dialogisch. Um die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf ihre eigenen inneren Bilderwelten zu lenken, eignen sich beispielsweise Freewriting-Einheiten oder Serielles Schreiben. Gerne nutzen wir kurze Formen wie Elfchen, Schneeball, Akrostichon oder ABCdarium – zumal wir nur eine begrenzte Zeit von vier Stunden für jeden Spaziergang zur Verfügung haben. Wenn uns etwas stark berührt, bewährt sich auch der innere Dialog – mit uns selbst oder mit der jeweiligen Frauenpersönlichkeit. Das Schreiben mit kreativen Techniken liefert den sicheren Rahmen und verhindert, dass die Teilnehmenden sich in ihren Texten verlieren. Das fügt sich auch sehr gut ein in die Thesen der amerikanischen Tagebuchtherapeutin Kathleen Adams: diese Art des mit-sich-in Zwiesprache-Gehens biete unter anderem die Chance, sich auf sich selbst einzuschwingen (Self-Pacing), Gedanken und Gefühle mit anderen zu teilen (Communication) und darüber Klarheit über sich selbst (Clarity) zu gewinnen (Schulte-Steinicke, 2016).
Auch wenn es vermessen klingen mag: Es liest sich, als wäre Friedrich Nietzsche einmal auf einem unserer Stadtspaziergänge mitgelaufen, wenn er 1887 in seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der „Fröhlichen Wissenschaft“ – in überraschend gereimter Form und heiterem Ton – schreibt:
Ich schreib nicht mit der Hand allein:
Der Fuß will stets mit Schreiber sein.
Fest, frei und tapfer läuft er mir
bald durch das Feld, bald durchs Papier.
Zuerst veröffentlicht in :
Magazin SchreibRÄUME – Heft Nr. 2, September 2020; Thema ‚Schreiben und Körper‘
Weiterführende Literatur
BÖTHIG, Peter [Hg.] (2004): Christa Wolf. Eine Biographie in Bildern und Texten. München: Luchterhand, S. 21
NEWMARK, Catherine (2018): Gehirne sind zum Gehen da. Gespräch mit Gerd Kempermann. In: Philosophie-Magazin, Sonderheft Wandern. Berlin: Philomagazin Vlg., S. 22-25
ORTOLI, Sven (2018): Ich gehe, also denke ich. Gespräch mit Michel Serres. In: Philosophie-Magazin, Sonderheft Wandern. Berlin: Philomagazin Vlg., S. 62-65
PHILOSOPHIE Magazin (2018), Sonderausgabe 10, Wandern. Berlin: Philomagazin Vlg.
SCHULTE-STEINICKE, Barbara (2016): Kreatives Schreiben in Beratung, Psychotherapie und psychosozialer Arbeit. Unveröffentlichter Lehrbrief im Postgradualen Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der Alice Salomon Hochschule Berlin, S. 12-14
WALK, Laura (2011): Bewegung formt das Hirn. Lernrelevante Erkenntnisse der Gehirnforschung. In: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 01/2011, Lernen in Bewegung, Bielefeld, S. 27-29