Brasilien: Überlebenskampf am Hafen von Rio de Janeiro
Pedro Gulherme Freire
Als ich noch im Zentrum von Rio de Janeiro wohnte, genauer gesagt im unweit des Hafens gelegenen Stadtteil Gamboa in der Nähe des Parks Praça da Harmonia, lief ich oft die Rua de Livramento entlang. Nach Feierabend musste ich meine Kinder von der Schule abholen. Meine Schüler*innen waren außer sich vor Freude ihren mit Taschen vollbehängten Lehrer und seine Kinder zu sehen. Die Jugendlichen saßen dort auf der Straße, hörten Musik, plauderten und immer wenn ich sie dort antraf, wurde mir bewusst, dass ich ihnen unbedingt dabei helfen muss, die Prüfungen am Ende des Schuljahrs zu bestehen. An Montagen putzten sie sich schon am frühen Abend heraus, denn das war der Samba-Tag in ihrem Kiez. Ich habe sie alle schon lange in meinen Gemeindekursen unterrichtet, mit Ausnahme von Rodrigo. Er wurde erst im vergangenen Jahr mein Schüler. Ihn habe ich nie richtig kennengelernt, denn im März 2020 wurden wegen der Corona-Pandemie die Schulen geschlossen und inzwischen ist er nicht mehr unter uns. Unser letztes gemeinsames Gespräch in der Klasse drehte sich um Fragen der Kindheit und die Rechte von Kindern und Jugendlichen. Alle haben gelacht und diverse Geschichten aus ihrem Alltag erzählt. Sie wollten wissen, wie das Erwachsenwerden vor sich geht, was Erziehung bedeutet und welche Rolle Gewalt in unserem Leben spielt. Rodrigo trug ein weißes T-Shirt und saß ganz vorne. Dieses Bild hat sich in mein Gedächtnis geprägt.
Die Pandemie stand noch am Anfang. Vier Wochen lang hatten Lehrer*innen und Schüler*innen von Rodrigos Schule Lebensmittelpakete verteilt gemeinsam mit den Leuten von den Gemeindekursen zur Prüfungsvorbereitung und der städtischen Francisco-Galotti-Schule, die sich in der ältesten Favela Lateinamerikas im Stadtbezirk Morro da Providência befindet. In der Vorwoche erschien Rodrigo mit seinen Schulfreunden, um sich seine Ration abzuholen. An dem Tag waren jedoch schon alle Vorräte vergeben, weshalb wir ihn für die kommende Woche eintrugen. Normalerweise fand die Lebensmittelverteilung Mittwochs statt, aber wegen einer Lieferverzögerung wurde sie auf den Donnerstag verschoben. In der fünften Woche kam es dann zu einem brutalen Vorfall. Es war der 21. Mai 2020 am Abend. Ich ging gerade die Straße zur Schule hoch, als ich den Schuss hörte. Es passierte blitzschnell und ich kann es immer noch nicht fassen. Ein Akt blinder Wut kostete mit Rodrigo einen weiteren jungen Afrobrasilianer das Leben.
Die Polizei verbreitete sofort über alle Kanäle die Information, dass der ermordete junge Mann ein Drogendealer gewesen sei, weil bei ihm angeblich Drogen und Waffen sichergestellt wurden. Wir aber wissen, dass dies nicht stimmt. Wenn es um Afrobrasilianer*innen geht, wiederholt sich dieses Muster ein ums andere Mal. Todesschüsse ohne Recht auf Gegenwehr. Der nicht vorbestrafte und niemals von der Polizei belangte junge Mann bestritt seinen Lebensunterhalt als sonntäglicher Eisverkäufer am Strand und arbeitete unter der Woche zusammen mit seiner Tante an einem Stand gegenüber des Hospital dos Servidores. In den Nachrichten wurde er hingegen als getöteter Straftäter beschrieben, der die Beweise für seine Schuld in der Tasche trug. Die jedoch wurden ihm untergesteckt, damit er als Verbrecher durchgeht, während sein Mörder als Unschuldiger gilt. Die Ermordung von Rodrigo, des Mädchens Agata, des Jugendlichen João Pedro und vieler weiterer Kinder und Jugendlicher durch Polizist*innen hinterlässt bei uns das Gefühl, dass wir selbst für Gerechtigkeit sorgen müssen.[1]
Deshalb haben unmittelbar nach dem Mord viele Menschen aufbegehrt, um die Wahrheit zu sagen: Rodrigo hat an einer Schule gelernt, gearbeitet und stand für Lebensmittel an, die er nicht entgegen nehmen konnte, weil er erschossen wurde. Anwält*innenkollektive und Menschenrechtler*innen unterstützten Rodrigos Familie und die Zeug*innen während der polizeilichen Vernehmungen. Ein Zusammenschluss von Vereinen und Bewegungen gegen Gewalt stand ihnen ebenfalls bei und stellte den Kontakt zu anderen Müttern her, die ihre Kinder unter ähnlichen Umständen verlorenen hatten und für sie kämpfen mussten. So wurde Rodrigo bei einer Demonstration gegen die Dezimierung der afrobrasilianischen Bevölkerung und für Solidarität mit der Bewegung im Zentrum von Rio de Janeiro zu einem weiteren Symbol des Widerstands. Sein Gesicht war auf T-Shirts und Plakaten abgebildet, die seine Mutter, seine Tante, Brüder, Neffen und Freund*innen trugen.
35 Jahre sind seit Ende der von 1964 bis 1985 andauernden Militärdiktatur in Brasilien vergangen. Bis heute kämpfen die Bewegungen für das Recht auf Leben und gegen Folter[2] für das Andenken an die Ermordeten, Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie wollen die sterblichen Überreste ihrer im Kampf gegen institutionalisierte Gewalt des Militärregimes vermissten Kinder ausfindig machen. Dieses Regime verbot Studentenvereinigungen und Gewerkschaften, löste den Kongress auf, übte Zensur gegen Liedtexte und Medien. Es schaffte seine Widersacher*innen beiseite und veranlasste, gesponsort von Großkonzernen und Großgrundbesitzer*innen, die Zwangsumsiedlung von hunderttausend Menschen aus ihren Häusern in die Favelas von Rio de Janeiro. Die Militärs verjagten die indigenen Völker aus ihren angestammten Gebieten, machten sich an das Abholzen der Amazonaswälder, trugen zu einer Konzentration der Einkommen in den Händen einiger Weniger bei und vermachten weite Teile unserer Ressourcen dem internationalen Kapital. Die Diktatur endete vor über dreißig Jahren, aber im Grunde genommen hat sich seither wenig verändert. Die Folterkeller des Diktatursystems existieren nach wie vor in den Gefängnissen, und der Hauptgrund für Folter und Mord in diesem Land - der Rassismus - gedeiht seit der Gründung Brasiliens als Nation unter staatlicher Protektion.
Rodrigos Mutter sagte: „Ich lasse es nicht zu, dass mein Sohn als Verbrecher abgestempelt wird." Seine Ermordung steht stellvertretend für den Tod zahlreicher weiterer junger Afrobrasilianer*innen in den Favelas und legt ein Verständnis von Sicherheitspolitik offen, das typisch ist für alle Regierungen Brasiliens. Rodrigos Tod während der Ausgabe kostenloser Lebensmittel steht in enger Verbindung mit der Mobilisierung von unten und dem solidarischen Zusammenhalt vor dem Hintergrund der Pandemie. Die Verteilung von Lebensmittelpaketen wurde von der Bildungsinitiative Machado de Assis organisiert, die sich nach einem barbarischen Vorfall im Jahre 2008 gegründet hatte. Soldaten der brasilianischen Armee entführten damals drei junge Männer und lieferten sie einer Fraktion von Drogenhändlern aus, die mit den den Stadtbezirk Morro da Providência kontrollierenden Drogendealern im Clinch lagen. Sie taten dies im Wissen, dass alle armen Bezirke einer bestimmten Fraktion zugeordnet werden und es andauernd Kämpfe um die jeweilige Vorherrschaft gibt. Die drei jungen Männer wurden gefoltert und getötet.
Als Reaktion darauf beschlossen Angehörige der Gruppe GEP (Gruppe für Volksbildung), die bereits zuvor in dem Stadtteil mit Obdachlosen gearbeitet hatten, auf Einladung der Kommuneleitung in den Favelas bevölkerungsnahe Bildungsangebote umzusetzen. Als erstes Projekt entstanden Vorbereitungskurse für die staatlichen Aufnahmeprüfungen, die eine Voraussetzung sind, um in bestimmten Berufsbereichen arbeiten zu können. Im Jahr darauf fanden außerdem Kurse zur Vorbereitung auf staatliche Examen statt. Im Unterschied zu Bildungsangeboten anderer Anbieter*innen werden diese Kurse horizontal organisiert und sind weder kommerziell ausgerichtet, noch stehen sie in Verbindung mit staatlichen Stellen. Vielmehr handelt es sich um eine libertäre, basisorientierte und antikapitalistische soziale Bewegung.
Im April 2020 schlossen sich die im Stadtbezirk Providência und in Hafennähe aktiven Kollektive in einem Krisenkabinett - so die Selbstbezeichnung - zusammen, um Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus zu ergreifen. Zunächst wurden Infektionsfälle erfasst und mit dem Coronavirus Infizierte beraten. Zudem fanden Aufklärungsaktionen statt, um den Sinn und die Handhabung von Schutzmasken, sowie sorgfältiges Desinfizieren und Händewaschen und die Wichtigkeit der Abstandsregeln zu erklären. Das mag äußerst banal erscheinen, aber diese Aktionen erfreuten sich großer Beliebtheit. Sie standen in auffallendem Kontrast zu den von der Bundesregierung vertretenen Prinzipien, die solch einfach umzusetzenden Hygienemaßnahmen keine Bedeutung beimaß. Wie allseits bekannt outete sich Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro als Anhänger biopolitischer Strategien zur Deutungshoheit über wertes und unwertes Leben - was der kamerunischen Philosophen und politischen Theoretikers Achille Mbembe als „Nekropolitik“ bezeichnet hat.
Krisenkabinette wurden von sozialen Bewegungen in vielen brasilianischen Favelas organisiert. In Paraisópolis, einer Favela in São Paulo, entstand eine immens wichtige autonome Bewegung, um die Bewohner*innen vor Ort zu eigenem Handeln zu befähigen. Dieses Vorbild bewirkte die Gründung ähnlicher Initiativen in großen Favelas von Rio wie Maré, Complexo do Alemão, Cidade de Deus und anderen. Auch in Providência ließen sich Kollektive davon inspirieren und gründeten ihr eigenes Kabinett. Neben Aufklärungsarbeit sorgten sie bald für Lebensmittelvergaben, denn mit Beginn der Pandemie stieg die Arbeitslosigkeit rasant an, was zu Hunger führte.
Die Krisenkabinette weisen ein besonderes Merkmal auf. Sie vereinigen zahlreiche unterschiedliche Kollektive, darunter auch Nichtregierungsorganisationen, die ihrerseits an auf ihre Tätigkeit zugeschnittene Agenden und Fördervorgaben gebunden sind. Die Beteiligung solcher Organisationen erschwert den komplexen Politisierungsprozess innerhalb der breiten Zusammenschlüsse und die Umwandlung der Kabinette in Zusammenhänge mit langfristigem Mobilisierungspotenzial. Im September 2020 verringerten sich seine Aktivitäten bevor es dann schließlich die Arbeit ganz einstellte. Nachdem eines der besetzten Häuser im Bezirk Boca da Elma, wo Polizisten Rodrigo ermordete hatten, in Flammen aufging, kam es zunächst zu einem kurzzeitigen Aktionsschub. Nachdem Brand gab es eine Spendenaktion, außerdem mussten alternative Unterkünfte für die betroffenen Familien gesucht werden, die keinerlei staatliche Unterstützung erhielten. Das war die letzte Aktion des lokalen Krisenkabinetts, während die Bildungsinitiative Machado de Assis weiterhin an der Eindämmung der Corona-Pandemie arbeitete. In Kooperation mit einer Initiative der staatlichen Universität Fluminense zur Gesundheitsaufklärung fanden alle fünfzehn Tage Gespräche in der Favela statt, um der Bevölkerung das Thema Impfung nahe zu bringen. Infolgedessen änderten viele Menschen ihre Einstellungen zu Impfungen und deren Bedeutung.
Ein weiteres Netzwerk im Einzugsgebiet des Hafens ist die erst vor kurzem ins Leben gerufene Bewegung für den Kampf um Wohnrecht. Sie entstand als Gegenreaktion auf ein durch die Stadtverwaltung betriebenes Projekt zur Belebung des Stadtzentrums, das die Vertreibung Hunderter in alten und verlassenen Häusern untergekommener Familien zur Folge hätte. Es ähnelt den Plänen, die 2013 zur Vertreibung von Hunderten Familien aus alten und besetzten Häusern in Morro da Providência und der Hafengegend geführt hatten. Sie mussten für den Bau einer Seilbahn weichen, die weniger als ein Jahr in Betrieb war und seit über sechs Jahren stillgelegt ist. Die Menschen wurden damals auf die Straße gesetzt, um ihre Häuser dem Privatkapital zu übereignen. Widerstand sozialer Bewegungen gegen solche Projekte ist existenziell wichtig. Im vorliegenden Fall gelang es, die Vertreibung von 600 Familien zu verhindern. Dank Solidarität von unten und trotz vorangetriebener Gentrifizierung bleibt der Wohnraum für Obdachlose erhalten. Immer mehr Menschen sind sich dessen bewusst, dass nur autonom handelnde Zusammenschlüsse fähig sind, den Kampf gegen den Tod und für das Leben zu führen. Die Corona-Pandemie hat diese Tendenz lediglich beschleunigt.
[1] Über Rodrigo und weitere Morde an jungen Afrobrasilianer*innen siehe: https://www.yesmagazine.org/social-justice/2020/08/27/brazil-movement-for-black-lives.
[2] Torture never again. http://www.torturanuncamais-rj.org.br/