Iran - Gefängnis, Pandemie und Militarisierung der Gesundheitskrise

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Iran Corona

Wie die Pandemie im Iran zur weiteren Militarisierung des Landes beiträgt

Mounes Golafshar

Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie ist der Iran eines der am schwersten davon betroffenen Länder[1] weltweit nach den Vereinigten Staaten, Indien oder Brasilien; im Nahen Osten steht Iran sogar an erster Stelle.  

Die Pandemie erreichte das Land in einer kritischen Situation, als das Misstrauen zwischen Bevölkerung und Staat nicht abgründiger hätte sein können. Ein solch extremes Misstrauen ist nicht nur für den Iran kennzeichnend. Doch in den letzten Monaten wurden Misstrauen und Ablehnung zu dem entscheidenden Merkmal, welches das Verhältnis beider Seiten zueinander bestimmt: zunächst durch die brutale Kampagne, bei der im November 2019 hunderte, ja tausende Teilnehmer*innen der Proteste eingekerkert oder ermordet wurden.[2] Diese hatten sich zunächst gegen die Erhöhung der Benzinpreise gerichtet, waren dann aber schnell in eine Forderung nach dem Sturz des Regimes umgeschlagen. Weiter angeheizt wurden die Spannungen durch den augenscheinlich versehentlichen Abschuss einer ukrainischen Zivilmaschine durch das iranische Militär, bei dem alle 176 Passagiere und Besatzungsmitglieder zu Tode kamen. [3]

Während die meisten Berichte die Pandemie unabhängig von anderen Entwicklungen im Land betrachtet haben, versucht dieser Text sie im Zusammenhang umfassenderer sozio-politischer und ökonomischer Entwicklungen zu beleuchten, die sich bereits in den Jahren zuvor abgezeichnet hatten. Dabei legt er den Akzent insbesondere auf Fragen der Militarisierung und allgemein auf vom Staat ausgehender Gewalt.  

 

Zwischen Sanktionen und Austerität: Ein Gesundheitssystem unter Belagerung

Bereits vor dem Notstand im Zusammenhang mit Covid-19 stand das iranische Gesundheitssystem unter enormem Druck, einerseits bedingt durch Jahre brutaler Wirtschaftssanktionen seitens der USA, anderseits infolge von Privatisierungen, Sparmaßnahmen und Stellenabbau.

Krankenhäuser sahen sich einer schier unerträglichen Last ausgesetzt, als sie mit den Herausforderungen der Pandemie umgehen mussten, nachdem sie sowieso bereits unter einem erheblichen Mangel an Ressourcen litten, unterfinanziert und mit zu wenig Personal ausgestattet waren. Laut offiziellen staatlichen Quellen sind mindestens zwölf Krankenpfleger*innen im Kampf gegen das Corona-Virus gestorben.[4] Doch bereits vor Ausbruch der Pandemie gab es Berichte über Krankenpfleger*innen, die aufgrund von Stress und extremer Erschöpfung gestorben waren, nachdem sie über einen längeren Zeitraum mehrere aufeinander folgende Schichten gearbeitet hatten.     

Im Dezember 2018 verfassten über 180 Pfleger*innen-Vereinigungen eine gemeinsame Erklärung.[5] Darin verurteilten sie die Budget-Entscheidungen des Staates und dass dieser  eine Gesetzesinitiative abgelehnt hatte, die die Einstellung zusätzlicher Krankenpfleger*innen als dringliche öffentliche Gesundheitsmaßnahme vorsah. Doch die Regierung ignorierte diese Notrufe und fuhr stattdessen mit der Festnahme von Aktivist*innen am Arbeitsplatz, Studierenden und Gewerkschafter*innen fort. Es war einer der Momente bitterster Ironie, als eines der größten privaten Krankenhäuser Irans ausgerechnet während der Pandemie fast 600 Krankenpfleger*innen auf einen Schlag entließ. [6] Die Wut brach sich öffentlich Bahn. Dieser Schritt wurde heftig kritisiert – während der Staat dazu schwieg. Die Arbeitsbedingungen des Krankenhauspersonals waren derart untragbar, dass die Schwestern und Pfleger*innen mitten in der Pandemie begannen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Seit Juli 2020 haben Vereinigungen von Krankenhauspersonal in Mashhad (einem der Corona-Hotspots) und in anderen Städten Proteste organisiert. Dabei erhoben die Krankenpfleger*innen dieselben Forderungen wie in vorangegangenen Jahren: zurückgehaltene Gehälter sollten ausgezahlt werden, die Arbeitsbedingungen in Kliniken verbessert und Arbeitsverträge fairer gestaltet. Doch anstatt auf sie zu hören und die fundamentalen Bedürfnisse jener zu erfüllen, die ihr Leben im Kampf gegen die Pandemie aufs Spiel setzten, wertete der Staat ihre friedlichen Versammlungen als Bedrohung der öffentlichen Ordnung und ging seinerseits zum Angriff auf die Krankenpfleger*innen über, indem er sie verhaften ließ.[7] Während der iranische Staat die im Beschäftigten im Gesundheitsbereich in den staatlich kontrollierten Medien als „Nationalhelden“ und „heilige Märtyrer“ feierte, beraubte er sie ihrer grundlegenden politischen Rechte und ließ ihnen keine andere Wahl als unter den harschesten und gefährlichsten Bedingungen zu arbeiten.       

 

Die Pandemie als Vorwand für Militärpräsenz

Nachdem die iranische Führung die Ausbreitung von Covid-19 wochenlang geleugnet und somit Maßnahmen vorsätzlich verzögert hatte, [8] reagierte sie erst auf direkte Anweisung[9] des Obersten Führers Ayatollah Khamenei überhaupt auf die Pandemie und zwar, indem sie im ganzen Land die regulären Streitkräfte und die Basij-Milizen[10] mobilisierte. Akteure*innen und Einheiten, die in keiner Weise darauf vorbereitet waren, denen jegliche einschlägige Erfahrung im Umgang mit einer Gesundheitskrise fehlte, bekamen unvermittelt den Auftrag und die entsprechenden Vollmachten, das Land gegen das zu schützen, was Khamenei als „biologische Attacke“[11] bezeichnete. In Erklärungen anderer staatlicher Vertreter und religiöser Figuren wandelte sich diese Aussage dann in „biologische Kriegsführung der USA und Israel“. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass diese neue Macht nicht jenseits des Rechts oder außerhalb eines juristischen Rahmens agiert, sondern vollkommen legal und innerhalb der bestehenden Institutionen, denn sie wird durch die oberste politische und religiöse Position in diesem Land gewährt. In seiner Eigenschaft sowohl als selbsternannter oberster Befehlshaber der Streitkräfte, als auch als Staatsoberhaupt des Landes hat Ayatollah Khamenei seine Position immer wieder dazu benutzt, die Revolutionsgarden (ICRG) und die Basij-Milizen im Namen der „nationalen Verteidigung und Sicherheit“ zu missbrauchen. 

Die Militarisierung der Pandemie-Bekämpfung durch das Staatsoberhaupt brachte dem Staat in zweierlei Hinsicht Nutzen: Sie trug durch die Zuschreibung der Krise ausschließlich äußeren Mächten dazu bei, von der staatlichen Verantwortung abzulenken. Und – was noch wichtiger ist – die Militarisierung erlaubte es, mühelos dem militärischen Apparat und den IRGC umfassende rechtliche Vollmachten einzuräumen und dieses Vorgehen zu rechtfertigen.

In einer tiefgründigen Analyse[12] dieser problematischen Entwicklung legt der iranische Gelehrte Saeid Golkar dar, wie diese Maßnahmen es dem Staat ermöglicht haben, die Reichweite seines Militärapparats über den üblichen Wirkungsgrad hinaus und tiefer hinein in lokale und Nachbarschaftszusammenhänge auszuweiten:

„Von der Einrichtung neuer Hauptquartiere bis hin zur Entsendung Hunderttausender Soldaten und militärischen Personals scheinen die Garden die Krise als Gelegenheit genutzt zu haben, auf lokaler Ebene ihre Macht auszuweiten.“ 

Doch warum eine solche ungewöhnliche Eingrenzungsstrategie? Warum hat der Staat sich entschieden, eine lokale militärische Infrastruktur zu etablieren, statt die bestehende zivile Gesundheitsinfrastruktur zu verbessern oder international empfohlene präventive Maßnahmen zu ergreifen, wie etwa eine Quarantäne über Hotspots zu verhängen oder in der damaligen Situation Flüge aus und nach China einzustellen?

Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir uns die entscheidende Rolle vor Augen führen, die Nachbarschaftskomitees und ad-hoc-Netzwerke zur gegenseitigen Hilfe in den vergangenen Jahren gespielt haben, um  die sich verschärfende Umwelt- und Gesundheitskrise im Iran zu bewältigen. Angesichts dessen, dass es an umsichtig und verantwortlich handelnden staatlichen Strukturen mangelt, die zur Verantwortung gezogen werden können, sahen sich die iranische Zivilgesellschaft ebenso wie marginalisierte Communities in entlegenen Gegenden gezwungen, sich selbständig zu organisieren und das öffentliche Gesundheitswesen selbst in die Hand zu nehmen. Während der Hochwasser von 2019/20, die die südlichen Regionen Khuzestan und Baluchestan schwer trafen, kamen bereits überwiegend nicht-staatliche Solidaritätsinitiativen der den Folgen der Katastrophe schutzlos ausgesetzten Bevölkerung zu Hilfe. In Ahwas etwa errichteten Jugendliche aus der Region als Behelfsmaßnahme Dutzende von Schutzdämmen,[13] die Wohngebiete vor Überflutung bewahrten – eine großartige Initiative, durch die die lokale Bevölkerung Hoffnung schöpfte, und sich stärker in der Lage fühlte, den Folgen des Klimawandels etwas entgegensetzen zu können. Anstatt jedoch die Beteiligung der Bevölkerung am Umweltkrisenmanagement zu begrüßen und sie darin zu bestärken, reagierte der Zentralstaat, in dem er lokale Aktivist*innen überwachte, verhaftete und Hausdurchsuchungen bei ihnen durchführte.

Doch trotz Verhaftungen und Einschüchterung gelang es dem iranischen Staat nicht zu verhindern, dass sich im Zuge der Corona-Krise ähnliche lokale Initiativen gründeten. In der kurdischen Region beispielsweise bildeten sich in den Städten Marivan[14] und Saqqez[15] unabhängige Komitees, um die Ausbreitung des Coronavirus auf lokaler Ebene einzudämmen. Sie initiierten erfolgreich Spendenkampagnen, um öffentliche Orte desinfizieren zu können. Sie verteilten in der lokalen Bevölkerung zudem Masken und Hygieneartikeln und stellten marginalisierten und abgelegenen Communities Aufklärungsmaterial über Covid-19 auf Kurdisch zur Verfügung – ein weiterer Vorstoß, der dem historischen Bestreben des iranischen Staats entgegenwirkt, nicht-persische Sprachen zurückzudrängen.[16]  

In Anbetracht dessen, dass solche Selbstorganisierungsansätze immer populärer werden, liegt es nahe, den die staatlichen Maßnahmen als einen Versuch zu sehen, diese Art der Solidarität und gegenseitigen Hilfe im Rahmen von kommunalen Netzwerken einzugrenzen. Dies geht einher mit Vorbereitungen, mittels derer mögliche Aufstände in eben diesen Regionen zu ersticken, da die Unzufriedenheit mit dem Staat zunimmt.   



Die Pandemie erreicht zusammen mit intensivierter staatlicher Gewalt die Gefängnisse

Vielleicht veranschaulicht kein Aspekt die Intensivierung staatlicher Gewalt gegenüber den schwächeren Teilen der Bevölkerung im Iran während der Pandemie so eindrücklich wie die Situation in den Gefängnissen.

Wenige Tage nachdem die Regierung offiziell eingeräumt hatte,  dass Corona sich im  Land verbreitet, riefen die Angehörigen politischer Gefangener und Gefangenen-Solidaritätsaktivist*innen eine öffentliche Kampagne mit dem Slogan #FreePoliticalPrisonersIran[17] ins Leben und forderten die zeitweilige Entlassung aller politischen Gefangenen. Um dieser Kampagne den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigte der Staat seinerseits an, er werde als Maßnahme zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr in den überfüllten Gefängnissen 54 000 Gefangene entlassen. Doch unabhängig davon, ob das tatsächlich umgesetzt wurde, sollte diese Maßnahme lediglich für Gefangene gelten, die nicht wegen „sicherheitsrelevanter“ Anklagen im Gefängnis saßen und Haftstrafen von höchstens fünf Jahren erhalten hatten. Damit waren automatisch 7000 – 9000 Menschen ausgenommen, die wegen ihrer Teilnahme an den landesweiten Protesten von 2019 verurteilt worden waren[18], ebenso sämtliche Aktivist*innen, die sich für  Arbeiter*innen-Rechte oder Minderheitenrechte eingesetzt hatten, Feminist*innen, Umwelt-Aktivist*innen und Lehrer*innen. Denn sie alle sind angeklagt und in Haft, weil sie gegen das Versammlungsverbot verstoßen haben und „die nationale Sicherheit gefährden“. Nachdem der Staat sich geweigert hatte, politische Gefangene freizulassen, gingen prominente Inhaftierte wie die Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh in den Hungerstreik.[19] So unterstützten sie diese dringende Forderung auch aus dem Gefängnis heraus. Weibliche Häftlinge aus den Gefängnissen in Urmia[20] und Sanandaj[21] kündigten zudem kollektive Hungerstreiks an. Den Höhepunkt jedoch erreichte diese Bewegung, als Gefangene in mindestens 10 Gefängnissen im ganzen Land „um ihr Leben“ revoltierten[22], wobei einigen sogar der Ausbruch gelang. Der Staat reagierte, indem er die Revolutionsgarden von den Dächern der Haftanstalten auf Gefangene schießen ließ. Die genaue Anzahl der ermordeten Häftlinge ist nicht bekannt, doch Amnesty International dokumentierte in einer im April veröffentlichten Studie 35 Fälle.[23] Die meisten Inhaftierten starben in den Haftanstalten von Sheyban, Sepidar und Saqqez, also in Gefängnissen in den historisch benachteiligten kurdischen Regionen und in Ahwaz.[24] Auch ließ der Staat trotz des bahnbrechenden Erfolges der Kampagne #StopExecutionsInIran in den sozialen Medien weiterhin politische Gefangene hinrichten.

 

Zusammenfassung

Die Covid-19-Pandemie hat das bereits zuvor unerträgliche Maß an autoritärer militarisierter staatlicher Gewalt im Land und insbesondere auch in den Gefängnissen verschärft, wobei die Regierung von „biologischer Kriegsführung“ und dadurch die „nationale Sicherheit“ gefährdet sah. Um zu verhindern, dass diese Entwicklung zur neuen Normalität wird, müssen progressive und internationalistische Organisationen den iranischen Staat vernehmlich verurteilen und solidarisch an der Seite emanzipatorischer Bewegungen aus der Bevölkerung stehen, die eine radikale Veränderung im Land fordern und daran arbeiten, sie herbeizuführen.   





 


[10] Basij (kurz für Razman-e-Basij-e-Mostaz'afin) ist eine staatlich finanzierte paramilitärische Organisation und eine von fünf Untereinheiten der Islamischen Revolutionsgarden. Die Basij-Einheit ist für ein breites Spektrum von Aktivitäten verantwortlich, bei denen es um die Ausübung gesellschaftlicher und politischer Kontrolle im ganzen Land geht. Gemeint sind etwa polizeiliche Eingriffe an Universitäten und deren Überwachung, die Durchführung militärischer Trainings, die Unterdrückung von Protesten und Verbreitung von Propaganda.
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