In Zeiten von Corona und Social Distancing bieten sich Stadtspaziergänge an. Folge den Vorschlägen unserer App Action Bound oder drucke den Artikel zur Geschichte der "Roten Insel" aus.
1. Was die „Rote Insel“ in Schöneberg so interessant macht – als Kiez und auch als Bühne für die Menschenrechte
Zunächst einmal: die Schöneberger Insel, auch „Rote Insel“ genannt, ist keine unbekannte Größe. Zu den bedeutenden Literaturtiteln zählt ein Sammelband, den die „Geschichtswerkstatt Berlin e.V. “schon Ende der 1980er Jahre herausgegeben hat und der auch heute unübertroffen ist. Und seit 2018 gibt es die „Insel-Tour“: 19 informative Tafeln, die auf der Insel verteilt sind und „historische Informationen zu einem Stadtraum“ bieten – ein Projekt des Bezirksamts Tempelhof-Schöneberg, Abteilung Bildung, Kultur und Soziales, Fachbereich Kunst, Kultur, Museen.
Ein Dreieck im Osten Schönebergs
Die „Rote Insel“ liegt im Osten Schönebergs. Sie bildet ein Dreieck, dass durch den Bau dreier Bahnlinien in den 1830er, 1840ern und 1870er Jahren entstanden ist. Die Farbe „rot“ ist vermutlich durchaus politisch zu verstehen:
„Bei den Reichstagswahlen 1903 und 1907 fielen im Wahllokal Sedanstraße 55 (heute Keberstraße 61) fast 70 % der Stimmen auf die SPD“.
So lautet der Text zu diesem Thema auf der entsprechenden Tafel der „Insel-Tour“. Hier wird auch auf den Ursprung des Namens „Rote Insel“ eingegangen:
„Eine Erzählung geht ins Jahr 1878 zurück und besagt, dass der Getränkehändler Bäcker aus der Sedanstraße 22(heute Leberstraße 42) bei der Durchfahrt von Kaiser Wilhelm I. aus Protest gegen das Sozialistengesetz eine rote Fahne aus dem Fenster hängte. Eine andere Deutung leitet den Namen von den roten Kragenspiegeln der Eisenbahntruppen ab, die auf der Insel stationiert waren.“
Noch heute beeindrucken die Häuser, die zu einem großen Teil zwischen den 1880ern und 1918 gebaut wurden. Nur wenige Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Auch deshalb wurden die Straßenschluchten auf der „Insel“ eine beliebte Kulisse für Filmaufnahmen.
Aus der Luft betrachtet stellen sich die Straßen wie ein Gitter dar: im Norden führt die Monumentenstraße von West nach Ost. Etwas weiter südlich folgt die Kolonnenstraße, die älteste Straße in dieser Gegend, und dann im Süden die Torgauer Straße.
Quer dazu - also von Norden nach Süden - verlaufen fünf Straßen: von Westen nach Osten sind das die Cherusker-, die Goten-, die Leberstraße, sowie die Gustav-Müller- und die Naumannstraße.
Berühmte Menschen – besondere Orte
Besonders die drei Straßen im Westen der Roten Insel - Goten-, Cherusker und Leberstraße – wurden im Kaiserreich von der SPD und in der Weimarer Republik von der KPD geprägt. Die Leberstraße hieß damals Sedanstraße.
Sie wurde 1947 nach dem sozialdemokratischen Widerstandskämpfer Julius Leber benannt.
Julius Leber und seine Frau Annedore wurden – neben anderen Menschen - zu Symbolfiguren des Widerstandes gegen die NS-Diktatur. Diese Stärke dieses Widerstandes auf der „Roten Insel“ haben das Bild dieses Kiezes nachhaltig geprägt.
Weitere berühmte Menschen sowie besondere Gebäude und Orte – das sind ebenfalls Markenzeichen der „Insel“. Es gab nicht nur Annedore und Julius Leber – sondern auch andere klingende Namen, die im Gedächtnis sind: Marlene Dietrich, Hildegard Knef und Friedrich Naumann zum Beispiel.
Hinzu kamen neben anderen der Maler Hans Baluschek und der Schriftsteller Paul Zech.
Auch so unterschiedliche Personen wie der spätere Bundestagspräsident Hermann Ehlers und Willi Stoph, der von 1964 bis 1973 Vorsitzender des Ministerrates der DDR wurde, gehören dazu: Ehlers wurde 1904 in der Gotenstraße 6 geboren und Stoph verbrachte seine Kindheit zum Teil in der damaligen Sedanstraße.
Und schließlich lassen sich Namen von prominenten Menschen nennen, die eines gemeinsam haben: sie sind auf einem der beiden eindrucksvollen Friedhöfe begraben, die sich auf der „Roten Insel“ und an ihrem nördlichen Rand befinden: der Alte Zwölf-Apostel-Kirchhof in der Kolonnenstraße 24–25 und der Alte St.-Matthäus-Kirchhof Berlin. der zwischen der Großgörschen- und der Monumentenstraße liegt – mit dem Haupteingang in der Großgörschenstraße 26.
Hier seien als Beispiele die Feminist*innen May Ayim und Hedwig Dohm, die lesbische Aktivistin Kitty Kuse, der Sänger Rio Reiser und die Gebrüder Grimm erwähnt. Aber das ist natürlich nur eine kleine Auswahl.
Diese beiden Kirchhöfe, gehören zu den besonderen Anlagen zu ebener Erde, die die „Insel“ zu bieten hat.
Die Schöneberger Insel - ein Schatzkästlein
Verschiedene charakteristische Gebäude prägen die „Skyline“ der „Roten Insel“ - abends, wenn die Sonne untergeht, heben sich deren Umrisse vor dem Himmel ab. Besonders hervorzuheben ist der 78 Meter hohe Schöneberger Gasometer im Süden in der Torgauer Straße 12 – 15, die protestantische Königin-Luise-Gedächtniskirche in der Mitte des Gustav-Müller-Platzes und die katholische St. Elisabethkirche im Norden, in der Kolonnenstraße 39.
Zugleich ist die „Rote Insel“ tatsächlich wie ein Schatzkästlein, dem sich eindrucksvolle Geschichten über Menschen entlocken lassen, die sich für ein menschenwürdiges Leben für alle eingesetzt haben und einsetzen.
Warum Menschenrechtsspaziergänge und was hat die „Rote Insel“ damit zu tun?
Hier soll nicht nur dieser spannende Kiez vorgestellt werden, sondern es geht zugleich um die Menschenrechte in ihrer Vielfalt. Seit 2015 biete ich ein Menschenrechtsspaziergang über die „Rote Insel“ an. Dort kann diese Thematik vertieft werden.
Außerdem gibt es hier auf der Internetseite des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung eine App mit einem vorbereiteten Spaziergang über die Insel.
Die Aktualität der Menschenrechte
Gerade heute – angesichts der vielfältigen Gefährdungen der Menschenrechte weltweit – ist es wichtig, sie als rechtlich und moralisch verbindliche ethische Grundlage der Weltgesellschaft zu verteidigen.
Und das heißt auch: sie bekannt zu machen – also: über die Menschenrechte, und die Möglichkeiten, die sie konkret im Alltag bieten, zu sprechen. Da bietet sich gerade die „Rote Insel“ an – eben weil sie sehr eng mit dem Widerstand gegen das Nazi-Regime verbunden ist.
Ein bedeutendes Dokument in der Geschichte der Menschenrechte ist vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nazi-Regimes entstanden:
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Sie wurde am 10.Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen.
Auch wenn sie im Unterschied zu den einzelnen, in den folgenden Jahrzehnten entstandenen Übereinkommen der Vereinten Nationen über Menschenrechte nicht rechtsverbindlich ist, stellt sie doch ein bedeutendes Dokument dar.
In der Einleitung (der „Präambel“) zu diesem wichtigen Text ist zu lesen, dass diese Erklärung auch deshalb notwendig wurde, weil
„die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“.
Gemeint waren die Verbrechen des Naziregimes. Gerade vor diesem Hintergrund haben die Vereinten Nationen – ausgehend von der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - in den folgenden Jahrzehnten ein Regelwerk zum weltweiten Schutz der Menschenrechte aufgebaut.
Erstmals in der Geschichte hat sich die Weltgemeinschaft darauf geeinigt, dass Menschenrechte keine innere Angelegenheit eines Staates mehr sind, sondern, dass die Menschenrechte und die Bewahrung der Menschenwürde so wichtig sind, dass die Vereinten Nationen dazu berechtigt und dazu verpflichtet sind, sie weltweit zu schützen.
Auf der „Roten Insel“, in diesem kleinen Kiez, ist es sehr gut möglich, die Vielfalt der Menschenrechte anschaulich darzustellen.
Kinderrechte und Klimapolitik
Die Kinderrechte sind in der Kinderrechtskonvention von 1989 verankert.
Da es so viele, zum Teil sehr schön gestaltete Kinderspielplätze auf der „Roten Insel“ gibt, lassen sich die Kinderrechte hier sehr gut veranschaulichen.
Im September 2019 hat die damals 15-jährige Hamburgerin Schülerin Raina Ilanova zusammen mit 15 anderen Kindern beim Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen
eine Beschwerde gegen die Regierungen von fünf Staaten wegen deren unzureichender Klimapolitik eingereicht.
Es handelt sich um „Argentinien, Brasilien, Deutschland, Frankreich und die Türkei. Fünf Länder, deren Co2-Emissionen einerseits besonders hoch sind, die andererseits 2014 das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention unterzeichnet haben, das Beschwerden erlaubt.“
Dabei beriefen sie – beziehungsweise die Rechtsanwaltkanzlei, die die Beschwerde geschrieben hat – sich auf die vier Grundprinzipien der Kinderrechtskonvention:
„Das Diskriminierungsverbot – Kinderrechte gelten ausnahmslos für alle Kinder. Diese haben zweitens ein Recht auf Leben und sich persönlich entwickeln zu können, ein Recht, dass ihre Interessen bei staatlichen Entscheidungen berücksichtigt werden und sie sich an solchen Entscheidungen, die sie betreffen, auch beteiligen können.“
Menschenrechte sind verbindlich und konkret: das Beispiel Inklusion – oder: Auch ein fehlender Aufzug am U-Bahnhof ist ein Menschenrechtsthema.
Hier wird deutlich: die Menschenrechte wirken sich praktisch aus. Sie sind nicht nur eine schöne Idee für freundliche Sonntagsreden. Sondern sie sind – wie der Name schon sagt - „Recht“, also: sie haben die rechtliche Verbindlichkeit eines Gesetzes.
In Deutschland haben diejenigen Menschenrechtsübereinkommen, die die Regierung unterzeichnet hat, den Rang eines Bundesgesetzes.
Wie gut, dass es am S-Bahnhof Julius-Leber-Brücke einen Aufzug gibt. Denn das ist auch eine Menschenrechtsfrage.
- Wie bitte?
- Ja, denn wenn es keinen Aufzug gäbe, wäre dieser S-Bahnhof nicht barrierefrei. Oder: in der Sprache des „Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ aus dem Jahr 2006 nicht „zugänglich“. Und das ist ein Verstoß gegen dieses Übereinkommen. Denn dort wird die „Zugänglichkeit“, die „Barrierefreiheit“ gefordert. Auch für das Bildungswesen. Alles sollen einbezogen werden, niemand ausgeschlossen. Der bekannte Begriff lautet: „Inklusion“.
Hier wird noch einmal deutlich, dass die Menschenrechte allen Menschen nützen und dass sie sich in allen Alltagsbereichen auswirken. Entsprechend dem berühmten Satz aus dem Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
“Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Das Diskriminierungsverbot als menschenrechtliches Prinzip
Ein bedeutender menschenrechtlicher Grundsatz ist – ausgehend von diesem Satz – das Verbot jeglicher Diskriminierung. Ganz gleichgültig, ob diese Benachteiligung zum Beispiel aus rassistischen Gründen stattfindet oder ob eine Person wegen ihrer Liebesorientierung diskriminiert wird: LGTB-Rechte sind selbstverständlich ebenfalls Menschenrechte, also das Recht auf Gleichberechtigung von lesbischen, schwulen, transsexuellen, Transgender und bisexuellen Menschen.
Auf der „Roten Insel“ lassen sich einige Orte finden, um anschaulich auf diese Menschenrechte hinzuweisen:
Beispielsweise die Stolpersteine für die jüdische Familie Frankenstein vor dem Haus Kolonnenstraße 12/13: eine Mahnung, dass Antisemitismus, also antijüdischer Rassismus zum Völkermord geführt hat.
Davon ausgehend, ist es auch möglich, auf andere Formen des Rassismus hinzuweisen: z.B. auf Rassismus gegen Romn*ja und Sinti, gegen Schwarze Menschen oder gegen Muslim*innen.
Und es gibt eben auch auf der „Roten Insel“ Orte, die für das Engagement für LGTB-Rechte stehen: z.B. der Kitty-Kuse-Platz (Naumannstraße 47), der an eine bedeutende lesbische Aktivist*in erinnert, die auf der „Insel“ geboren wurde. Oder das Büro der AHA,
der Allgemeinen Homosexuellen Arbeitsgemeinschaft e. V. in der Monumentenstraße 13.
Und natürlich sollte es immer auch darum gehen, sich die Frage zu stellen, was gegen Diskriminierungen und für die Menschenrechte im eigenen Umfeld praktisch getan werden kann.
Eine niederschwellige Möglichkeit ist in ganz Berlin, natürlich auch in Tempelhof-Schöneberg, solche Vorfälle dem „Register zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle in Berlin“ mitzuteilen.
Die Unteilbarkeit der Menschenrechte
Bedeutsam ist auch, dass schon in den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 eine große Bandbreite von Menschenrechten erwähnt wird.
Es geht zum Beispiel um das Recht auf Leben, auf Schutz vor Folter. Oder das Recht auf Meinungsfreiheit und die Glaubensfreiheit.
Aber bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte enthalten. Das sind zum Beispiel das Recht auf Wohnen, auf Gesundheit, auf Bildung und auf Kultur.
Diese Unteilbarkeit der Menschenrechte ist sehr wichtig – die verschiedenen Menschenrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Wie bereits erwähnt, war es auch die Unmenschlichkeit des NS-Regimes, die 1948 zur Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führte.
Und auf der „Roten Insel“ gab es mutige Menschen, die gegen dieses Regime Widerstand leisteten. Sie haben die Menschenwürde verteidigt.
Die „Rote Insel“ als Beispiel für den Widerstand gegen das Naziregime
Auch heute ist das Bild, das sich Menschen von der „Roten Insel“ machen, von diesen Widerstandskämpfer*innen geprägt.
Zum Beispiel von Julius und Annedore Leber: der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und seine Frau, die Schneiderin und Juristin war, hat von 1937 an in einer Kohlehandlung an der Torgauer Straße - im Süden der „Insel“ - gearbeitet. Sie befand sich in der Torgauer Straße, an der Ecke zur Gotenstraße.
Im Juli 1944 wurde der Widerstandskämpfer dort verhaftet und nach einem Schauprozess am 5. Januar 1945 hingerichtet.
Die Julius-Leber-Brücke und der dortige S-Bahnhof sind ebenso nach ihm benannt wie die Leberstraße.
In der Nähe der ursprünglichen Kohlenhandlung entsteht zwischen Torgauer Straße und Annedore-Leber-Park der „Lern- und Gedenkort Annedore und Julius Leber“. Getragen wird das Projekt von einem ehrenamtlich arbeitenden, sehr engagierten Arbeitskreis, der unter anderem aus Mitgliedern des „Stadtteilvereins Schöneberg“ und der Geschichtswerkstatt Berlin e.V. besteht. Im Spätsommer 2020 hat der Arbeitskreis eine neue Publikation vorgestellt, die Informationen auf dem neuesten Stand bietet.
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Im Widerstand gegen das Naziregime auf der „Roten Insel“ waren nicht zuletzt Mitglieder der KPD aktiv.
Auch die kleine, undogmatische Gruppe „Kommunistische Partei Opposition“ (KPO). Hier waren unter anderen Alfred Davidsohn und Ernst Paul aktiv.
Der Chemiker Alfred Davidsohn lebte in der heutigen Crellestraße 27, der damaligen Bahnstraße. Der Metallarbeiter Ernst Paul wohnte in der Hohenfriedbergstraße 2. Beide waren also im nördlichen Teil der „Insel“ zuhause.
Die KPO trat für ein „Bündnis der beiden großen Arbeiterparteien“ gegen die Gefahr, die von den Nazis ausging, ein. Alfred Davidsohn, der jüdischer Herkunft war, konnte sich mit einem Teil seiner Familie nach Palästina retten. Dort wurde er Mitglied einer Gruppe, die der Religionsphilosoph Martin Buber ins Leben gerufen hatte und „die sich für die jüdisch-arabische Verständigung einsetzte“.
Die Erkenntnisse über Alfred Davidsohn und die KPO gehen auf die umfassenden Forschungen der Historikerin Gisela Wenzel von der Berliner Geschichtswerkstatt e.V. zurück.
Spuren des Nazi-Regimes in der Nachbarschaft der „Roten Insel“:
Der „Informationsort Schwerbelastungskörper“ und der „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“
Das Naziregime selbst hat ebenfalls Spuren um die „Rote Insel“ herum hinterlassen. Eine Möglichkeit, sich darüber zu informieren, gibt es im „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“ am historischen Ort (Werner-Voss-Damm 54A): hier „befand sich von März bis Dezember 1933 ein frühes Konzentrationslager unter Führung der SA. Die verantwortlichen SA-Männer inhaftierten, verhörten und folterten an diesem Ort vor allem politisch Andersdenkende, Juden und andere vom NS-Regime verfolgte Gruppen.“ Auf der „Roten Insel“ wurde ein Weg nach Hertha-Block benannt (Hertha-Block-Promenade), die 1933 im SA-Gefängnis Papestraße inhaftiert war. Diese Promenade läuft in den Alfred-Lion-Steg aus, benannt nach dem US-amerikanischen Musikproduzenten, der als Alfred Wladislaus
Lion 1908 in Friedenau geboren wurde und mit seiner jüdischen Mutter 1933 nach Chile floh.
Der „Informationsort Schwerbelastungskörper“ in der General-Pape-Straße 1, direkt hinter der Kolonnenbrücke, im Osten der „Insel“, orientiert über das „größen-wahnsinnigste Bauvorhaben“, das „es je für Berlin gegeben hat“, nämlich die Planungen des NS-Regimes für die „Welthauptstadt“ „Germania“.
Die Bedrohung der „Roten Insel“ unter diesen Bedingungen der Barbarei ist natürlich nicht annähernd mit einer späteren Entwicklung in den 1970ern und 1980ern gleichzusetzen. In dieser Zeit wären Teile der „Insel“ durch die Planung einer Schnellstraße, der „Westtangente“ zerstört worden. Aber: diese Episode in der Insel-Geschichte ging gut aus – vor allem dank der Initiative von engagierten Menschen wurde diese Straße nie gebaut.
Wie die „Insel“ durch eine Bürger*inneninitiative gerettet wurde
In den 1970ern bestimmte die Vorstellung einer „autogerechten Stadt“ die Vorstellung der Verkehrsplaner*innen auch auf der größeren Insel West-Berlin.
Die in diesem Zusammenhang vorgesehenen Schnellstraßen hätten so manchen „Kiez“ zerstört.
Der Architekt Norbert Rheinländer, einer der aktivsten Vertreter der 1974 als Verein gegründeten „Bürgerinitiative gegen die Westtangente e.V.“ schreibt über die Anfänge der Initiative:
„Herbst 1973. Bei einigen Anwohnern in der Cherusker- und Ebersstraße herrscht Aufregung: Ein Kinderspielplatz soll verlegt werden. Wir informieren uns und erfahren, daß dies ein erster Schritt ist zur Verwirklichung der im Flächennutzungsplan von 1965 vorgesehenen Autobahn Westtangente. Ihr sollen Wohnhäuser und Grünflächen geopfert werden, um dem Leitbild der autogerechten Stadt Rechnung zu tragen. Wir Anwohner sind uns einig in der Ablehnung dieser autofixierten, umweltschädlichen Verkehrspolitik und beschließen, uns dagegen zu wehren.“
Die Bürgerinitiative machte Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit und sie entwickelte ein neues Konzept - „eine echte Alternative zum Autoverkehr: die 'Grüntangente.' Diese Idee vernetzt die Bahngelände, die über 40 Jahre nicht mehr benutzt worden sind und auf denen eine üppige und vielfältige 'Spontanvegetation' herangewachsen war, mit Stadtteilparks uns sonstigen Grünflächen.“
Heute sind viele Elemente dieser Idee auf der „Roten Insel“ verwirklicht.
Es gibt auch ein Menschenrecht auf Wohnen
Das Problem steigender Mieten, die Umwandlung in Eigentumswohnungen und die damit oft verbundene Verdrängung von Menschen – auch unter dem Begriff „Gentrifizierung“ zusammen gefasst – macht vor der „Roten Insel“ nicht halt. Deshalb ist die „Insel“ seit 2015 eines der „Milieuschutzgebiete“ im Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
„Ziel des Milieuschutzes ist es, negative städtebauliche Folgen zu verhindern, etwa die mögliche Verdrängung von Altmietern, die ihre Mieten nach sogenannten Luxusmodernisierungen oder der Zusammenlegung kleinerer Wohnungen nicht mehr bezahlen können.“
Ganz wichtig: es gibt auch ein Menschenrecht auf Wohnen – eben als Teil der schon erwähnten „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte“, kurz WSK. Über das Recht auf Wohnen informiert z.B. Amnesty International.
Dieses Recht kommt auch schon in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vor, die am 10.Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde, nämlich in Artikel 25,1.
Im Herbst 2020 hat sich der Milieuschutz auf der „Roten Insel“ tatsächlich noch einmal bewährt. Der Slogan „Rettet die Rote Insel!“ stand wieder auf der Tagesordnung. Denn:
das schwedische Unternehmen Heimstaden hatte 130 Häuser in ganz Berlin gekauft, darunter auch vier Häuser auf der Roten Insel.
Die Befürchtung war, dass das Unternehmen eine Umwandlung der Mietwohnungen in Eigentumswohnungen vornehmen wollte, um die Häuser dann später zu einem höheren Preis verkaufen zu können. Am 20.11.2020 aber "hat Heimstaden eine sogenannte Abwendungserklärung für insgesamt 82 Immobilien unterzeichnet, die milieugeschützt sind. So konnte der Konzern verhindern, dass die Bezirke von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen. (…) Mit der Abwendungserklärung verpflichtet sich Heimstaden, 20 Jahre lang auf Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen zu verzichten.“
Ein neues Stadtviertel entsteht südlich der „Roten Insel“
Südlich der „Insel“ und der Ringbahn wächst sehr zügig ein neues Stadtviertel auf der sogenannten „Schöneberger Linse“ - also zwischen Torgauer Straße, Naumannstraße und Tempelhofer Weg.
Dorthin werden auch die Zentralen der „Berliner Stadtreinigung“ (BSR) und von Vattenfall Deutschland ziehen.
Und: bereits im Herbst 2020 „sollen die 664 Wohnungen für rund 1200 Menschen im neu entstehenden Stadtquartier Südkreuz fertiggestellt sein. (…) Zur Auswahl stehen 335 frei finanzierte Mietwohnungen, 116 Sozialwohnungen und 213 Mikroapartments für Studenten.“
2. Von Marlene über Hildegard zu May und Kitty:
Berühmte Frauen auf der Roten Insel - und wie am Gustav-Müller-Platz die Idee zum ersten Frauenhaus in Deutschland entstand.
Prominente Frauen des 20.Jahrhunderts auf der Roten Insel: Marlene Dietrich und Hildegard Knef, May Ayim und Kitty Kuse
Die vielleicht berühmteste „Tochter“ der Insel, Marlene Dietrich (1901 – 1992) hat sich in den USA gegen das Nazi-Regime engagiert: nach 1945 wurde sie dafür von nicht wenigen West-Berliner*innen angefeindet – von anderen aber auch gerade deshalb geliebt.
Geboren wurde Marlene Dietrich in der heutigen Leberstraße 65 (damals hieß die Straße – wie bereits erwähnt - Sedanstraße).
Auch eine andere Berliner Schauspielerin Hildegard Knef (1925 – 2002) war eine zeitweilige „Insel-Bewohnerin“. Für sie gibt es in der Leberstraße 33 ebenfalls eine Gedenktafel. Fünf Jahre lang, von 1928 bis 1933 lebte sie, die in Ulm geboren war, in der damaligen Sedanstraße – so der Rote-Insel-Blogger Ulf Schumann.
Auf dem „Alten St.Matthäus-Kirchhof“ (Großgörschenstraße 26) sind zwei weitere sehr engagierte Frauen, May Ayim und Kitty Kuse, bestattet.
May Ayim (1960 – 1996), deren Bedeutung als Schwarze deutsche Dichterin und feministische Aktivistin gar nicht zu überschätzen ist – gerade heute – war Mitherausgeberin des 1986 erschienen, bahnbrechenden Buches „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“.
Hier geht es auch um den Schutz vor rassistischer Diskriminierung, wobei damit selbstverständlich alle Formen von Rassismus gemeint sind. Übrigens: die Generalversammlung der Vereinten Nation hat schon 1965 das „Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung“ verabschiedet. Es wird auch Anti-Rassismus-Konvention, oder abgekürzt ICERD genannt.
Kitty Kuse (1904 - 1999) gründete 1974 eine Gruppe für ältere lesbische Frauen. Das war in Deutschland die erste Gruppe dieser Art nach 1945. Die Zeitschrift, die von der Gruppe von 1975 an herausgegeben wurde, hieß „ukz – unsere kleine zeitung“.
Aufgewachsen ist Kitty Kuse auf der „Roten Insel“. Sie beteiligte sich unter der Nazidiktatur an der Rettung der jüdischen Malerin Gertrude Sandmann „indem sie Lebensmittel quer durch Berlin zu ihrem Versteck brachte.“
Christiane von Lengerke schrieb in der UKZ (Nr. 1/2 2000) über sie:
„Kitty war nicht nur eine unerschrockene Frau, eine treue Freundin, eine, die sich für andere einsetzte, kurz: ein Vorbild. Kitty war auch lebendiges Zeugnis dafür, dass es schon lange vor der Nazizeit, in der Generation der Mütter, Frauen gegeben hatte, die öffentlich, halböffentlich, oder auch in privaten Zirkeln ihre Liebe zu Frauen gelebt hatten. Sie war Repräsentantin unserer verschwiegenen Geschichte.“
An der Naumannstraße 47 erhielt eine Grünananlage auf der „Roten Insel“ 2017 den Namen „Kitty-Kuse-Platz“.
Im Schatten der Königin-Luise-Gedächtniskirche: Eine Frauen-Wohngemeinschaft am Gustav-Müller-Platz und die Idee zum ersten Frauenhaus in Deutschland
Übrigens: in einer Frauen-Wohngemeinschaft am Gustav-Müller-Platz, dort wo, eine der berühmtesten Gebäude auf der Insel, die Königin-Luise-Gedächtniskirche steht - ein rundes, neo-barockes Bauwerk aus dem Jahr 1912 – wurde die Idee für ein Frauenhaus geboren, das 1976 in Berlin-Wilmersdorf eröffnet wurde und das älteste Frauenhaus in Deutschland sein soll.
Die Vereinten Nationen haben 1979 das „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ (CEDAW) verabschiedet, das auch „Frauenrechtskonvention“ genannt wird.
Selbst in Berlin aber herrscht in der Gegenwart ein Mangel an Plätzen in Frauenhäusern. Gewalt gegen Frauen und weitere gravierende Menschenrechtsverletzungen an sowie Benachteiligungen von Frauen bestimmen in Deutschland und international die Schlagzeilen.
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3. Die „Rote Insel“ im Kaiserreich:
„Arbeiter und Soldaten“, Bürger*innen und
Kleinbürger*innen. Und dazwischen Friedrich Naumann, ein „liberaler“ Verfechter des deutschen Kolonialismus
Ungleiche Nachbarschaften: die Arbeiterbewegung und das kaiserliche Militär
Wie bereits erwähnt lebten etwa zwischen den 1880ern und 1918 in den drei Straßen im Westen der Insel nicht zuletzt Arbeiterinnen und Arbeiter. Die SPD und KPD waren hier ausserordentlich stark – die SPD vor allem im Kaiserreich, und später - in der Weimarer Republik die KPD.
Diese drei Straßen waren die Cherusker-, die Goten- und die Sedanstraße. Hier war also die „Insel“ besonders „rot“.
Aber: gleich nebenan entstanden östlich davon Häuser mit Wohnungen für Angestellte, Beamte – und allgemein Angehörige der Mittelschichten.
Beispiele dafür sind die Gustav-Müller-Straße und die heutige Naumannstraße – sie hieß bis 1929 Königsweg und hat heute noch Vorgärten.
Und ein drittes, sehr wichtiges Element war schon in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts und auch im Kaiserreich bis zur Novemberrevolution von 1918 das Militär: es gab auf der Insel und gleich nebenan im Gelände um die heutige General-Pape-Straße einen Militärbahnhof und allein Kasernen für gleich zwei sogenannte „Eisenbahnbataillone“. Und das ist nur ein Teil der hiesigen riesigen Kasernenanlagen. Übrigens: die Kolonnenstraße heißt tatsächlich so, weil die Militärkolonnen hier im Kaiserreich entlang marschierten.
Angehörige der Schöneberger Eisenbahnbataillone waren auch an der Niederschlagung z.B. der Aufstände der Nama und Herero im heutigen Namibia - und damit an einem Völkermord durch die deutsche Kolonialmacht - beteiligt. Darüber informierte eine Ausstellung zur Kolonialgeschichte der Museen Tempelhof-Schöneberg im Jahr 2017.
Politiker, Pfarrer und glühender Verfechter von Imperialismus und Kolonialismus
Wie liberal war Friedrich Naumann (1860-1919)?
Zu den eher etablierten Berühmtheiten unter den Insel-Bewohner*innen zählte
der liberale Politiker und Pfarrer Friedrich Naumann (1860 – 1919), der von 1906 bis 1919 in der heutigen Naumannstraße 24 wohnte.
Er war einerseits sozial orientiert und andererseits Verfechter einer imperialistischen Politik, was die Befürwortung von Kolonialismus und kolonialistischer Gewalt, die bekanntlich auch Massenmorde beinhaltete, einschloss. So verteidigte Naumann die „Hunnenrede“ von Kaiser Wilhelm II. aus dem Jahr 1900.
„Darin hatte dieser den nach China auslaufenden deutschen Soldaten zugerufen, sie sollten den Boxeraufstand blutig niederwerfen (...)“.
Naumann wurde und wird vorgehalten, die extrem gewalttätige, von Massakern gekennzeichnete Politik des Osmanischen Reiches und des jungtürkischen Regimes gegenüber den Armenier*innen insgesamt gerechtfertigt bzw. beschönigt zu haben. So schrieb der Publizist Lothar Baier in einer Buchbesprechung für den Deutschlandfunk, Naumann habe sich „selbst von den noch frischen Nachrichten über den Völkermord an den Armeniern von 1915 und 1916 im April 1917 nicht davon abhalten (lassen), bei der Grundsteinlegung für ein deutsch-türkisches Freundschaftshaus in Konstantinopel die Festrede zu halten.“
Expert*innen gehen davon aus, dass zwischen 1915 und 1916 ein Völkermord an den Armenier*innen stattfand.
Seit 1929 ist die Straße, in der er von 1906 bis 1918 wohnte, der ehemalige Königsweg, nach ihm benannt. Er ist begraben auf dem zweiten berühmten Friedhof auf der „Roten Insel“, dem „Alten Zwölf-Apostel-Kirchhof“, gegenüber von dem Haus, in dem er wohnte.
4. Die „Rote Insel“: ein Ort der Vielfalt in Vergangenheit und Gegenwart
Auch Tempelhof-Schöneberg ist ein Berliner Bezirk, in dem weit über ein Drittel der Bevölkerung Kinder oder Kindeskinder von Einwander*innen sind oder selbst eingewandert sind. Hinzu kommen Menschen, die in Fluchtunterkünften leben.
Dies zeigt noch einmal, dass Vielfalt eine Selbstverständlichkeit und der Normfall ist – natürlich in Berlin, in Tempelhof-Schöneberg und auch auf der „Roten Insel“. Das bedeutet aber leider noch nicht, dass alle Teile der Bevölkerung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft entsprechend ihrem Anteil vertreten sind. Auch heute erleben Menschen, dass sie als angeblich nicht Zugehörige, als angeblich „andere“ ausgegrenzt werden. Umso wichtiger ist es, zu betonen, dass auch die „Rote Insel“ - wie natürlich Berlin überhaupt - immer ein Ort der Vielfalt war.
Und zur Vielfalt gehörten schon lange vor 1911 auch auf der „Roten Insel“ Einwander*innen: in der Kolonnenstraße z.B. besaß die Familie Sarre spätestens im 19.Jahrhundert Grundstücke – eine Familie, die von den Hugenott*innen abstammte, die bereits im späten 17.Jahrhundert als Geflüchtete aus Frankreich unter anderem nach
Berlin und Brandenburg kamen. Auch der Botaniker Carl David Bouché (1809 – 1881), der den „Alten Zwölf-Apostel-Kirchhof“ in der Kolonnenstraße 24–25 gestaltete, kam aus einer Hugenottenfamilie.
Im Jahr 1911 wurde die katholische St.Elisabeth-Kirche eingeweiht - ebenfalls in der Kolonnenstraße. Damals gab es einen dringenden Bedarf dafür, für katholische Einwander*innen aus Schlesien und Westfalen.
Auch heute steht diese Kirche für Vielfalt: seit 1989 hat die Slowenische Gemeinde hier ein Zuhause. Afrikanische Christ*innen feiern hier sonntags ihre Gottesdienste.
Das Robert-Blum-Gymnasium gegenüber - in der Kolonnenstraße 21 – hat sich das Motto gegeben: „Vielfältig zusammen leben und lernen“. Die Schule gehört zum bundesweiten Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.
In der Ausgabe der „blumpostille“, dem Mitteilungsblatt des Fördervereins des Robert-Blum-Gymnasiums vom Januar 2020 wird das Kunstprojekt „Ick bin Berlinerin“ einer Schülerin vorgestellt. Sie hatte „Menschen mit einem Migrationshintergrund fotografiert“ und diskriminierende Bermerkungen hinzugefügt, die sich auch viele der Schüler*innen oft anhören müssen. Dagegen wollten sie etwas tun. „Wir entschieden uns auf die Straße zu gehen und mit den Plakaten Aufmerksamkeit zu erregen. Dafür stellten wir uns kreisförmig auf, trugen Masken und hielten die Plakate hoch. Der auserwählte Ort für diese kleine Demonstration war das Brandenburger Tor.“
Es wurde, so der Bericht „Ein voller Erfolg!“ Denn: durch Diskussionen mit Passant*innen gelang es den Schüler*innen, andere Menschen zum Denken anzuregen.
In einer kleinen Parallelstraße der Kolonnenstraße, in der Geßlerstraße 11, steht das „Interkulturelle Haus“. „Hier wird Familien, Kindern und Jugendlichen, ganz gleich welcher Herkunft und Religion, Raum zur Begegnung und zum Austausch, zu Bildung und Kreativität geboten“, heißt es auf der Internetseite der Einrichtung.
Das Interkulturelle Haus wird vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg „gefördert und unterstützt“. Hier trifft sich auch die Tempelhof-Schöneberger Arbeitsgemeinschaft der Immigranten- und Flüchtlingsprojekte (T-SAGIF).
„Ihr gehören über 40 Immigrant*innen- und Flüchtlingsprojekte des Bezirks Tempelhof-Schöneberg an“, informiert wiederum die Internetseite von T-SAGIF. Weiter heißt es dort:
„T- SAGIF verfolgt das Ziel, das Klima der Verständigung und des friedlichen Miteinanders im Bezirk zu fördern und die Teilhabe der Migrant_innen in allen Lebensbereichen zu erhöhen.“
Interkulturelles Haus und T-SAGIF – Berlin.de: Tempelhof-Schöneberger Arbeitsgemeinschaft der Immigranten- und Flüchtlingsprojekte (T-SAGIF)
In dieser sehr vorsichtigen Sprache ist recht wenig von gleichen Rechten die Rede, aber auch dieses Ziel ist sicherlich gemeint.
Wer sich weiter in der Nähe umschaut, findet einige weitere Einrichtungen, in denen sich die Geschichte der Einwanderung seit der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts und die kulturelle Viefalt heute abbilden:
So wurde beispielsweise in der Naumannstraße 7 1993 die „Kita Knospen“ gegründet, die erste Kindertagesstätte des Vereins „Selbsthilfeprojekt für Frauen - SHP e.V.“ (auf Türkisch: Hanımlar Yardımlaşma Derneği), seit 2019 „SHP für Bildung gGmbH“.
Heute ist dort die Kita Tulpen. Aus den Angaben auf der Internetseite über die Geschichte der Einrichtung geht hervor, dass „die Vereinsgründerin, Frau Dere“ „1972 nach Deutschland kam“ und „17 Jahre lang als Schneiderin in einer Textilfabrik“ arbeitete.
Und in besonderer Weise steht der „Stadtteilverein Schöneberg e.V.“– auf der „Roten Insel“ und in anderen Kiezen von Schöneberg für eine interkulturelle Arbeit.
Das Büro des Vereins befindet sich in der Crellestraße 38. Auf der „Roten Insel“ unterhält der Stadtteilverein zwei Kindertagesstätten: die Kita Cookies am Gustav-Müller-Platz 2 und die Kita Kik in der Monumentenstraße 3.
Der Verein ist auch einer der beiden Träger*innen des „Arbeitskreises Gedenkort Annedore und Julius Leber“ und damit daran beteiligt, die Erinnerung an den Widerstand gegen das Naziregime auf der „Roten Insel“ wachzuhalten.
Der „Inselgarten“: Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte gärtnern gemeinsam
Auch das Recht auf Schutz vor Verfolgung steht bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und zwar in Artikel 14,1:
„Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“
Auf der „Roten Insel“ gibt es ein besonders schönes Projekt, an dem Menschen mit Fluchterfahrungen beteiligt sind in der Cheruskerstraße 2: Im „Inselgarten“ mit seinen eindrucksvollen Hochbeeten und einem Bienenstock gärtnern Geflüchtete und bereits länger in Berlin lebende Menschen gemeinsam, organisiert von der Initiative „Soulgarden Berlin“ und in Zusammenarbeit mit der Organisation „Über den Tellerrand“, deren Büro natürlich auch auf der „Insel“ ist, nämlich in der Roßbachstr. 6.
Gemeinsam Pflanzen groß ziehen, gemeinsam kochen, zusammen Sprachen lernen und zusammen Kultur genießen, das ist die Idee von „Über den Tellerrand“. Keya Choudhury leitet „Soulgarden Berlin“ - und sie und die „Seelengärten“ sind nicht nur auf der Schöneberger Insel, sonden auch anderswo in Berlin unterwegs.
5. Die Rote Insel als Ort von Kunst und Kultur in Vergangenheit und Gegenwart
Zum Beispiel Paul Zech (1881 – 1946): Der Schriftsteller hat in seinem Roman „Deutschland, dein Tänzer ist der Tod“ auch dem Arzt Dr. Max Frankenstein ein Denkmal gesetzt. In der Kolonnenstraße erinnern Stolpersteine an die Familie Frankenstein.
In den 1920ern zog einige Hundert Meter südlich der Dichter und Schriftsteller Paul Zech (1881 – 1946) in den damaligen Königsweg ein. Er lebte bis 1933 in dem Haus mit der heutigen Adresse Naumannstraße 78. Daran erinnert eine Gedenktafel am Haus. lebte. Er war ein Künstler, wie es einige Künstler*innen auf der „Roten Insel“ gab und gibt – eben in diesem Fall ein Wortkünstler. Paul Zech schenkte der Nachwelt den „Tatsachenroman“ „Deutschland, dein Tänzer ist der Tod“. Nach eigenen Angaben von Zech wurde das Buch zwischen 1933 und 1937, geschrieben, teils noch in Deutschland, teils im argentinischen Exil. Es ist ein „Widerstandsroman“, der zu großen Teilen Menschen beschreibt, die sich gegen das Naziregime zur Wehr setzten oder unter ihm litten.
So kommt beispielsweise der Arzt Dr. Max Frankenstein in dem Roman vor, der tatsächlich in der Kolonnenstraße 12/13 lebte. Er war jüdischer Herkunft. Im Roman von Paul Zech verteidigt der Buchdrucker Louis-Ferdinand Schimmel, der ebenfalls in der Kolonnenstraße wohnt und dessen Frau von Dr. Frankenstein hingebungsvoll versorgt wird, den Arzt gegen den antijüdischen Hass seiner Kinder:
„Nun hör mal, Mädchen, den Doktor Frankenstein kenne ich fast ein Menschenalter lang. Er hat deinen Großvater schon behandelt. Es gibt hier in der Kolonnenstraße überhaupt keine alteingesessene Familie, glaube ich, bei der er nicht Hausarzt ist. Ich habe nie gehört, dass man jemals abfällig von ihm gesprochen hätte. Seine Honorarforderungen sind mäßig, man kann das Geld noch aufbringen.“
Seit 2016 erinnern vier Stolpersteine vor der Kolonnenstraße 12/13 an die Familie: an Max und dessen Frau Paula Frankenstein, den Sohn Alfred und die Tochter Edith Benjamin, geb. Frankenstein. Max und Paula Frankenstein konnten sich, nachdem dem Arzt 1933 die Approbation entzogen worden und das Ehepaar zur Untermiete in der Münchner Straße wohnen musste, im Februar 1939 durch ihre Auswanderung nach Palästina retten, wie dies schon zuvor die Kinder getan hatten.
Etwas weiter in Richtung Julius-Leber-Brücke, an der Ecke Kolonnenstraße/Leberstraße befand sich seit 1906 das Kaufhaus Lesser, das zuvor auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu finden war. „Nach dem Tod ihres Mannes führte Frau Lesser das Kaufhaus gemeinsam mit ihren Töchtern weiter.“ Von 1940 an wurde Susette Lesser, die Jüdin war, ihres Besitzes beraubt – im Zuge der sogenannten „Arisierung“:
„Zunächst musste sie ihr Haus verkaufen, 1941 wurde ihr gesamtes Vermögen eingezogen und ihr Hausrat versteigert. Im Oktober 1941 wurde Frau Lesser nach Lodz deportiert.“ In dem Eckhaus befand sich später im Erdgeschoss eine Bolle-Filiale und seit mehreren Jahrzehnten ist dort ein Edeka-Geschäft untergebracht.
Zum Beispiel Maria Wollny, Judith Brunner, Kulturbeat und die Harfenjule:
Kulturschaffende in der Gegenwart auf der Roten Insel
Die Kunst und die Literatur sind auch in der Gegenwart auf der „Roten Insel“ zuhause.
Zum Beispiel sind hier heute oft kleine Galerien zu finden. Bereits seit vielen Jahren gibt es die Galerie drj art projects in der Leberstraße 60, ein „kuratierter, international orientierter Kunstraum für zeitgenössische konzeptuelle und minimale Kunst.“
Im Vergleich etwa zur benachbarten Potsdamer Straße sind es eher bescheidene, übersichtliche Orte der Kreativität, die sich in die Umgebung einfügen oder zu Anziehungspunktern für die Nachbarschaft werden.
Ein solcher Treffpunkt war über Jahre hinweg die Galerie „woyy“ in der Gustav-Müller-Straße 15.
Dort hat die Künstlerin Maria Wollny eigene Arbeiten und die von Kolleg*innen ausgestellt, Konzerte, u.a. mit argentinischen Musiker*innen organisiert – und jeden 15. Tag im Monat gab es dort Tango.
Maria Wollny, die an der Hochschule der Künste Berlin Meisterschülerin war, hat sich seit einigen Jahren in iher Kunst auf „Stencils“, auf Schablonen spezialisiert, mit denen sie Bilder auf Gebrauchsgegenstände bringt, die sie draußen am Straßenrand findet.
Die Malerin und Grafikerin Judith Brunner (Gustav-Müller-Platz 3), hat sich angesichts der Corona-Pandemie eine besondere Aktion zur Unterstützung von Künstlerinnen überlegt: in ihrem kleinen Schaufenster zeigt sie Arbeiten verschiedener ihrer Kolleginnen, die wie sie im Frauenmuseum Berlin organisiert sind, das sich als „Netzwerk für in Berlin lebende und arbeitende Künstlerinnen“ versteht.
Angesichts der Schwierigkeiten, zu Corona-Zeiten Ausstellungen durchzuführen, können Passant*innen im Schaufenster von Judith Brunner wechselnde Arbeiten verschiedener Künstlerinnen betrachten, und sich davon anregen lassen, sie zu kaufen.
Über ihre Malerei schreibt die Künstlerin:
„Meine Arbeit konzentriert sich auf die Verschränkung verschiedener Sichtweisen, da ich es für unmöglich halte, einer Sache nur einen Blickpunkt, ein "Bild" abzugewinnen. Selten ist das Leben eindeutig."
Auch die Theaterwissenschaftlerin und Sängerin Silke Saalfrank und ihr Partner, der Musiker und Sounddesigner Frank Junker haben mehrere Jahre lang auf der „Roten Insel“ künstlerisch gewirkt und sich nun ebenfalls auf Corona eingestellt - mit der Konzertfilmreihe „Klanginsel“. Kulturschaffende werden „zu ihrem Background, wie es ihnen in der Pandemie ergeht und zu ihrer Verwurzelung auf der Insel interviewt.“ Konzertfilmreihe „Klanginsel“. Kulturschaffende werden „zu ihrem Background, wie es ihnen in der Pandemie ergeht und zu ihrer Verwurzelung auf der Insel interviewt.“
Der Schöneberger Gasometer
Wie ein eindrucksvolles Drahtgestell die Künstler*innen und Dichter*innen angeregt hat:
Die Maler Hans Baluschek und Lyonel Feininger
Vor über 100 Jahren lebte der Maler Hans Baluschek (1870 – 1935) auf der „Roten Insel“, und zwar „von 1895 bis 1898 in der Gotenstraße 4, danach bis 1907 in der Cheruskerstraße 5“.
Er war Mitglied der „Berliner Secession“, einer Gruppe von Künstler*innen, die Ende des 19.Jahrhunderts gegen den Hauptstrom des Kunstbetriebes schwammen. Und er war aktives SPD-Mitglied.
„Baluschek hatte eine Vorliebe, charakteristische, für Berlin typische Aspekte eines industriell geprägten Großstadtlebens darzustellen. Seine im Stil des Kritischen Realismus gehaltenen Bilder schildern oftmals die soziale Tragödie der im industriellen Betrieb tätigen Menschen.“
Hans Baluschek bildete den Gasometer mehrfach ab. Schließlich war das Gebäude sein stets sichtbarer stummer Nachbar.
Der Gasometer IV wurde 1913 in Betrieb genommen. Neben Baluschek haben auch andere Künstler*innen das runde Gebäude als Motiv gewählt:
Der Maler und Karikaturist Lyonel Feininger etwa hat ihn schon 1912 in ausdrucksstarken, düster-leuchtenden Farben porträtiert, mit einer Lokomotive, die beinahe mit dem Gasometer zu einem Gebäude verschmilzt.
Von 1913 bis 1995 war der Gasometer in Betrieb.
„Zu überregionaler Bekanntheit gelangte die Kuppel – die eine der größten Traglufthallen der Welt ist – in den Jahren 2011-2015 als Veranstaltungsort für den Polit-Talk von Günter Jauch.“
Da gehörte das Gebäude bereits zu „EUREF“ – dem „Europäischen Energie Forum“ (Torgauer Straße 12 – 15), das seit 2007 dort entstand, wo sich zuvor das Gaswerk Schöneberg befand. „EUREF“ gilt als „Leuchtturmprojekt“ für die Energiewende in der Europäischen Union.
In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 wurde gerätselt, ob das Unternehmen Tesla in den Gasometer einziehen würde. Inzwischen scheint klar zu sein: die Deutsche Bahn zieht in den Gasometer. Dann sollen dort 1700 Arbeitsplätze entstehen.
Die Möglichkeit, dass der Gasometer dafür gänzlich zugebaut werden könnte, hat eine neu gegründete Bürger*inneninitiative „Gasometer retten“ auf den Plan gerufen. In der von ihr verfassten Petition heißt es: „Der Gasometer in Schöneberg ist in Gefahr. Der Investor Reinhard Müller will das einzigartige Industriedenkmal fast vollständig bebauen und der Bezirk Tempelhof-Schöneberg will das zulassen. Diese Pläne ignorieren den Denkmalschutz und können den Gasometer in seiner Substanz gefährden.“
Die Dichterin Zehra Çırak und ihr Gedicht über eine traumwandlerische Begegnung „oben auf dem Gasometer“
Schon vor etwa 20 Jahren hat sich die Berliner Dichterin Zehra Çırak (die 1960 in Istanbul geboren wurde und seit 1963 in Deutschland lebt) in einem Gedicht auf fast traumwand-lerische Weise mit dem Gasometer in Schöneberg auseinandergesetzt. Das Gedicht mit dem Titel „Zu einem Foto von F.Seidenstücker“ handelt von der Begegnung der Autorin mit einem Spaziergänger oben auf dem Gasometer im Jahr 1927. Dieser Spaziergänger ist auf der Fotopostkarte des Fotografen Friedrich Seidenstücker zu sehen:
„Manchmal träume ich von einem Spaziergang
oben auf dem Gasometer ganz alleine bei Windstille.“
In dem Traum kommt es zu einer Begegnung mit dem Spaziergänger:
„Der Flaneur wacht auf und sieht aus seinem Fenster
er schaut auf den Gasometer und lacht in den Morgen
verrückt sagt er mir träumte heute Nacht eine Begegnung
mit einer Frau im Jahre 2000 oben auf dem Gasometer.“
Zehra Çırak erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Adelbert von Chamisso Preis 2001. Sie hat in Berlin von 1982 mit dem Objektkünstler Jürgen Walter zusammen gearbeitet und zusammen gelebt, bis zu dessen Tod im Jahr 2014.
2019 haben die Lyrikerin Safiye Can und der Schriftsteller Hakan Akçit ein Interview mit Zehra Çırak geführt, das auf „Heimatkunde“, dem migrations-politischen Portal der Heinrich-Böll-Stiftung erschienen ist. Zehra Çırak erzählt von der „Lyrikbegeisterung bei Kindern und Jugendlichen“ die sie bei den Schreibwerkstätten, die sie an Schulen durchführt, erlebt. Diese Begeisterung „schlummert nur ganz leicht an der Oberfläche und muss lediglich etwas gerüttelt werden, und sie erwacht mit Freude am Sprachspiel und am Experimentieren.“
Text: Martin Forberg