Überleben in der Krise - Die Corona-Pandemie im vom Regime kontrollierten Teil Syriens
Amer Fadel:
Als ob Syrer*innen nicht schon genug erlebt hätten: Nach der Zerstörung ihres Landes, dem Verlust, dem Schmerz und dem Zusammenbruch ihrer Träume und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft mussten sie sich auch dem Kampf gegen die Covid-19-Pandemie stellen. Covid-19 hat den Syrer*innen neues Leid auferlegt, indem sie die syrische Bevölkerung vor weitere Herausforderungen auf psychologischer und wirtschaftlicher Ebene gestellt hat. Obwohl diese Beschwerlichkeiten extreme Härten mit sich brachten, haben in den Gebieten unter der Kontrolle des syrischen Regimes lebende Syrer*innen mit nahezu akrobatischen Kunstgriffen ihre eigenen Wege gefunden, sich an die neue Situation anzupassen, während Unterstützung seitens der Regierung komplett ausblieb.
Die Benachteiligten werden noch benachteiligter
Im April 2020, nachdem die erste Covid-19-Welle Syrien getroffen hatte, verhängte die Regierung Quarantänemaßnahmen. Sie stellte den Betrieb öffentlicher Verkehrsmittel sowie den regulären Schulbetrieb ein und verfügte über die Schließung von Restaurants und vieler Geschäfte bis auf bestimmte kurze Öffnungszeiten und das Angebot von Liefer- und Abholservice. Viele Berufszweige und Unternehmen waren von den Maßnahmen betroffen, Tausende von Menschen verloren ihre Arbeit. Dies gilt insbesondere für Personen, die in der Dienstleistungsbranche tätig sind, wie Restaurants, Cafés, Taxifahrer, oder Tagelöhner. Diese Teile der erwerbstätigen Bevölkerung fanden sich plötzlich ohne jede Einkommensquelle wieder.
Abu Adnan, Minibusfahrer Mitte 50, spricht mit großem Schmerz über diese Zeit:
„Der Minibus, den ich fuhr, war die Einkommensquelle für drei Fahrer, die im Schichtdienst arbeiteten. Wir alle mussten unsere Familien ernähren. Nachdem die Regierung die Quarantänemaßnahmen verhängt und das Transportwesen eingestellt hatte, wurde unseren Familien jedes Einkommen entzogen. Tagsüber habe ich auf einem kleinen Karren Erdbeeren und Ouja, grüne Mandeln, verkauft, aber das reichte zum Leben nicht. Also fing ich an heiße Getränke auf dem Fahrrad zu verkaufen, aber da ist die Nachfrage nicht sonderlich groß außer in den Abendstunden. Und dann begann auf einmal die mit dem Lockdown zusammenhängende Ausgangssperre.“
Er seufzt und fährt fort:
„Ungefähr drei Monate lang lebten wir unter extremen Sparbedingungen. Meine Frau musste ihren Ehering verkaufen, weil wir zu dieser Zeit kein Einkommen hatten, außer einer finanziellen Unterstützung meiner Brüder, die uns vor dem Hunger bewahrten. ”
Ahmed, 40 Jahre alt, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Früher arbeitete er als Kellner in einem Restaurant in einem Damaszener Vorort, aber der Restaurantbesitzer hatte ihn nach der Verhängung der Covid-19-Maßnahmen entlassen. Ahmad ist der Hauptverdiener für seine drei Brüder und die Eltern, die täglich Medikamente benötigen. Er erzählte, was er in dieser Zeit durchgemacht hat:
„Wir haben mehr als vier Monate nicht gearbeitet. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon mehr als drei Jahre in diesem Job tätig war, weigerte sich der Restaurantbesitzer, uns eine Entschädigung zu zahlen. Ich war nicht in der Lage, meinen Lebensunterhalt zu sichern und die Miete unseres Hauses zu bezahlen. So blieb mir nichts anderes übrig, als einige unserer Möbel zu verkaufen und mir Geld von Freunden und Verwandten zu leihen. Meine Schulden beliefen sich in dieser Zeit auf etwa eine Million syrische Pfund , und ich zahle sie bis heute zurück.“
Während dieser Phase, in der die Regierung pandemiebedingte Maßnahmen verhängte und das öffentliche Leben herunterfuhr, waren viele Geschäftsinhaber*innen gezwungen, diese vollständig zu schließen oder endgültig aufzugeben. Dies betraf vor allem Lebensmittelgeschäfte, Cafés und kleine Restaurants, die aufgrund ihres Einkommensverlustes, die Mieten nicht zahlen konnten oder sich bei den Großhändlern, bei denen sie einkauften, verschuldeten - auch aufgrund von Preissteigerung der Waren.
Netzwerk der sozialen Unterstützung
Aufgrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen und der Schwierigkeiten, sich an die neuen Vorgaben anzupassen, entstanden in Damaskus und seinen ländlichen Gebieten unterschiedliche Arten von Solidaritäts- und Kooperationsbewegungen unter Menschen der Arbeiter*innen- und Mittelklasse.
In Lebensmittelgeschäften verteilten viele Besitzer*innen kostenlos Gemüse und Obst an Bedürftige oder ließen nicht verkaufte Lebensmittel vor ihren Läden stehen, damit die Leute abholen konnten, was noch essbar war. Abo Mahmoud, ein Besitzer eines Lebensmittelladens in Jaramana, Ende 60, erzählt über diese gegenseitige Unterstützung:
„Viele Leute kauften zusätzliche Kilos Gemüse oder Obst und baten mich, sie für Bedürftige zur Seite zu stellen. Einige gaben mir auch Geld, um Gemüse und Obst an arme Leute zu verteilen. Außerdem habe ich täglich etwa zwanzig Kilo an die Leute verteilt, Gemüse und Obst zum halben Preis verkauft oder vor dem Laden für die Leute abgestellt.“
Andere Initiativen verteilten kostenlos Brot in mehreren Gebieten in Damaskus und dem ländlichen Umland. Einige Leute gingen zu den Häusern von Menschen von denen sie wussten, dass sie nichts zu essen hatten und verteilten an sie Brot. Wieder andere beauftragten Lebensmittelgeschäfte mit der Verteilung. Abo Khaled, ein 56-jähriger Mann und Besitzer eines Supermarkts in Damaskus, erklärte, was er in seiner Nachbarschaft beobachtet hat:
„Zwei Monate lang bezahlte mir ein Wohltäter 20 Säcke Brot, die an Bedürftige verteilt werden sollten. Ich selbst verteilte weitere zehn Packungen, wann immer ich es mir leisten konnte. Außerdem händigte ein anderer Laden in meiner Nähe ebenfalls 25 Packungen kostenlos aus. Dies beschränkte sich nicht nur auf Brot, einige Leute bezahlten mich für andere Grundgüter wie Öl, Bulgur, Reis und Zucker, damit ich sie kostenlos an Bedürftige verteilen konnte.“
Kreative Solidarität, um gemeinsam zu überleben
Die sich durch die Pandemie verschlechternde Lebenssituation hat bei vielen Syrer*innen bemerkenswerte Formen von Solidarität und Empathie geschaffen, unabhängig davon, ob sie sich kannten oder nicht. Einige Vermieter*innen erließen eine oder zwei Monatsmieten für Wohnraum und Geschäfte oder verlangten nur die Hälfte der Miete oder einen symbolischen Betrag. Nachbarn und Freund*innen begannen, Lebensmittel und andere Güter des Alltags untereinander auszutauschen. Viele begannen Leute zum Mittagessen einzuladen oder Bekannten selbst zubereitetes Essen zu schicken. Amjad, ein 39-jähriger Mann aus Jaramana, erinnert sich an diese Zeit:
„Während der Quarantäne rief ein Freund von mir an und sagte mir, dass seine alte Mutter mir ein Paket aus Suweida geschickt hat und ich es im Frachtbüro abholen kann. Ich weinte, als ich die Schachtel öffnete, sie war voller Liebe. Es war eine große Kiste voller Reis-, Zucker, Burghul- Linsenpackungen und Olivenöl, Spaghetti, Oliven, Makdous [mit Wallnüssen gefüllte Miniauberginen], Marmelade und Käse aus der Region. Außerdem hat ein anderer Freund einmal eineinhalb Kilo Lammfleisch aus dem Haus seiner Familie mitgebracht, dann hat er es gekocht und mich mit drei Freund*innen eingeladen, weil viele von uns schon lange kein Fleisch mehr gegessen hatten.“
Viele Nachbarn, Verwandte und Freund*innen ließen sich kreative Möglichkeiten einfallen, um sich der Situation anzupassen, wie zum Beispiel den Lebensmitteltausch. Oum Adnan, eine Mutter von zwei Jungen in Sahnaya, Mitte 50, berichtet über einige dieser Möglichkeiten:
„In dieser Zeit habe ich mit meiner Nachbarin einen intensiven Austausch betrieben: Ich habe ihr vier Kilo Burghul geschenkt und sie mir im Gegenzug zwei Kilo Zucker. Ich habe auch mit einem Verwandten von mir zwei Gläser Makdous gegen eineinhalb Liter Olivenöl ausgetauscht.“
Sie fügte hinzu:
„Während des Ramadan haben vier meiner Nachbarn und ich vereinbart, die Last der Küchenarbeit zu teilen, also jede von uns würde einen Teller von etwas zubereiten, was sie sich leisten kann, und dann das Essen an die anderen vier verteilen. Dadurch konnte jede von uns jeden Tag vier verschiedene kleine Gerichte auf den Tisch bringen, auch wenn alle diese Gerichte sehr einfach waren und kein Fleisch enthielten“.
Auch Bäuerinnen*Bauern tauschten einen Teil ihres Gemüses, Obsts und täglichen Erzeugnisse mit Lebensmittelgeschäften, um andere Produkte wie Zucker, Reis, Tee, Öl und Spaghetti zu erhalten. Andere tauschten hausgemachte Produkte wie Gurken, Marmeladen, Tomaten und Pfefferpaste aus.
Raucher*innen, die sich keine Zigaretten mehr kaufen konnten, nachdem viele von ihnen ihren Arbeitsplatz verloren hatten und die Zigarettenpreise enorm gestiegen waren, wechselten zu lokal hergestelltem Tabak, der von Hand gedreht werden kann. Einige Leute sammelten sich, um gemeinsam ein Kilo lokal angebauten Tabak zu kaufen und teilten ihn dann unter sich auf. Außerdem verteilten mehrere Leute Tabak an Raucher*innen, die sie kannten.
Bürger*innen- und Gemeindeinitiativen
Solidaritätsaktionen beschränkten sich nicht auf die individuelle Ebene, sondern trugen zur Vernetzung neuer Bürgerinitiativen bei, die Lebensmittelkörbe, Reinigungs- und Sterilisationsmaterialien verteilten. Die Arbeit dieser Initiativen ist eigentlich unpolitisch. Sie werden jedoch vom Regime überwacht. Dieses hat kein Problem mit ihrer Arbeit, solange sie einen Teil der Last von den Schultern der Regierung nehmen und sich nicht politisch engagieren. Denn dem Regime kommt dieses Engagement entgegen, denn somit wird die Frustration der Bürger*innen über dessen Unfähigkeit, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, reduziert.
Amar, ein 38-jähriger Aktivist, der sich freiwillig für eine dieser Initiativen engagiert, erklärte ihre Arbeit:
„Wir konnten von einigen wohlhabenden Händlern Spenden in Höhe von 250.000 syrischen Pfund sammeln. Davon haben wir Lebensmittel wie Spaghetti, Öl, Reis, Tomatenmark, Zucker und Tee gekauft, in 50 Körbe geteilt und an 35 arme Familien verteilt.“
Auch die 37-jährige Safaa, die in Sahnaya mit einer Initiative zusammenarbeitet, betont die Wichtigkeit dieser Arbeit:
„Wir haben mehr als hundert Hilfskörbe verteilt, die Masken, Sterilisations- und Reinigungsmittel, Medikamente, Vitamine und Babymilch enthielten. Wir konnten Spenden von einigen Wohltätigkeitsorganisationen und wohlhabenden Personen sammeln, die Beträge zwischen 1000 und 10.000 syrische Pfund spendeten. Darüber hinaus gaben einige Ärzt*innen und Apotheker*innen neben Gesichtsmasken und Babymilch, auch Medikamente für Menschen mit Diabetes, Blutdruck und anderen chronischen Erkrankungen ab. Wohltätigkeitsorganisationen spielten eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung fehlender Medikamente und kostenloser Gesundheitsdienste. Wir waren das Bindeglied zwischen ihnen und jenen Menschen, die diese Dienstleistungen und Güter benötigten, sich diese aber nicht leisten konnten.“
Die wichtige Rolle, die Jugendinitiativen während des Lockdowns gespielt haben, kann nicht ignoriert werden. Durch ihre sofortigen Notfallmaßnahmen konnten Dutzenden Menschenleben gerettet werden. Eines der beeindruckendsten Beispiele ist die Arbeit der Aqemha-Initiative (Dt. „Desinfizier es“-Initiative), die von einer Gruppe von Aktivist*innen und Ärzt*innen in Damaskus ins Leben gerufen worden war, um Covid-19-Patient*innen zu helfen. Ihre Arbeit wurde auf andere Provinzen ausgedehnt. Die Initiative bot medizinische Dienstleistungen, Beratung und Lieferung von Sauerstoffgeräten/-flaschen in die Wohnungen der Patient*innen an. Auch diese Initiative war auf Spenden und die Unterstützung anderer Personen angewiesen, was ein interessantes Beispiel für gemeinschaftliche Unterstützung und Solidarität in einem so grundsätzlichen Bereich wie die medizinische Versorgung darstellt.
Andere Initiativen leisteten direkte finanzielle Unterstützung für bedürftige Familien. Viele wohlhabende Menschen verteilten Geld an arme Familien. Darüber hinaus schickten etliche Mitglieder der syrischen Diaspora Geld, das in dieser Zeit etlichen Familien zum Überleben verhalf. Shadi, ein 38-jähriger humanitärer Helfer in Damaskus, erklärte dies folgendermaßen:
„Drei Monate lang haben wir während des Lockdowns Geld an fünfzehn Familien verteilt. Ein Händler aus Damaskus deckte den Lebensunterhalt von drei Familien, während ein anderer Wohltäter, ein Zahnarzt, die Miete für zwei Familien im ländlichen Damaskus bezahlte. Auch Überweisungen aus dem Ausland spielten eine wichtige Rolle bei der Linderung des Leidens der Menschen. Eine Person schickte uns 100 Dollar pro Monat, um die Miete von drei Häusern zu bezahlen, während ein anderer den Lebensunterhalt von vier Familien deckte.“
Nach dem Lockdown
Durch den Beginn der Sanktionen durch das US-amerikanische Caesar-Gesetz sowie der seit 2019 anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise im Libanon erlebte Syrer*innen einen weiteren drastischen wirtschaftlichen Zusammenbruch, der die Einkommensquelle aller Menschen beeinträchtigte: Die Inflation erreichte im Vergleich zu allen anderen Perioden des Kriegs ein beispielloses Niveau. Der Wechselkurs des Dollars erreichte 3000 syrische Pfund, was bedeutet, dass er sich im Vergleich unmittelbar vor Beginn der Covid-19-Pandemie um das sechsfache erhöht hatte. Ohne Angleichung der Einkommen und Gehälter führte der immense Preisanstieg für Waren zu einem enormen Rückgang der Kaufkraft der Menschen. Das Monatsgehalt einer Person reichte gerade mal aus, um zwei Kilo Lammfleisch oder acht Kilo Hühnchen oder dreißig Packungen Zigaretten von miserabler Qualität zu kaufen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben 90 % der Syrer*innen unter der Armutsgrenze. Darüber hinaus zählt Syrien zu den Ländern mit der niedrigsten Gehaltsskala weltweit.
Nach dem ein Jahrzehnt andauernden Krieg gehört Syrien zu den ärmsten Ländern der Welt. Abu Omar, ein Vertriebener aus Ghouta (Umland von Damaskus), der heute mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Sahnaya lebt, berichtet über die Schwierigkeiten, den täglichen Bedarf für sich und seine Familie zu decken:
„Mein Gehalt als Angestellter im öffentlichen Dienst beträgt nicht mehr als 52.000 syrische Pfund. Es reicht kaum für den Kauf von Zigaretten. Ich arbeite in Nachtschichten in einer Nähwerkstatt, was mir 150.000 syrische Pfund einbringt. Ich zahle 120.000 Miete, der Rest geht für Transport und Rechnungen drauf. Wir haben keine anderen Einnahmequellen. So können wir den Großteil unserer Lebenshaltungskosten nur aufgrund der Hilfe von Verwandten aus dem Ausland decken, die uns von Zeit zu Zeit etwas Geld schicken. Sonst hätten wir uns nicht selbst ernähren können.“
Firas, ein 46-jähriger Lehrer und seine 42 Jahre alte Frau verfügen über mehrere Einkommensquellen, müssen aber dennoch Sparmaßnahmen ergreifen, um überleben zu können. Er erklärt, wie sie ihr begrenztes Einkommen verwalten:
„Mein Gehalt als Sekundarschullehrer beträgt 65.000 syrische Pfund und das Gehalt meiner Frau beträgt 62.000 syrische Pfund. Wir haben auch zusätzliches Einkommen aus Privatunterricht und der Arbeit in privaten Einrichtungen, die jedem von uns zwischen 100.000 bis 150.000 syrische Pfund einbringen. Obwohl wir so viel arbeiten, reicht das Einkommen, das wir haben, nicht aus, um richtig zu leben.“
Und dennoch gelten 380.000 syrische Pfund im Vergleich zum Einkommen der meisten syrischen Arbeitnehmer*innen als gutes Gehalt. Es ermöglicht Firas‘ Familie, die aus ihm, seiner Frau und zwei Kindern besteht, ein Leben über der Armutsgrenze. Selbst mit diesem Einkommen sind sie zwar immer noch arm, aber sie hungern nicht.
Sparmaßnahmen und Verzicht auf viele Grundbedürfnisse
Angesichts der Verschlechterung der Wirtschaft, der Lebensbedingungen und knapper Ressourcen, sahen viele Menschen grundlegende Bedürfnisse nun als Luxus. Dazu gehört der Konsum von Tee, Kaffee, aber auch Brot. Syrer*innen, die für ihre reichhaltigen und abwechslungsreichen Mahlzeiten berühmt sind, fanden sich vor schlecht gedeckten Tafeln wieder, auf denen Fleisch und Hühnchen fehlten. Selbst diejenigen, die es sich leisten können, begannen Fleisch in Grammportionen oder nur Knochen zu kaufen, um sie zum Kochen von Brühe zu verwenden. Wo im Vorkriegssyrien Obst und Gemüse kistenweise gekauft wurde, tätigten nun viele Menschen ihre Einkäufe in kleinen Stückmengen. Oder sie verzichteten auf teures Obst und Gemüse und ersetzten es durch das billigste im Sortiment.
Außerdem haben viele Menschen aufgehört bestimmte Gewürze und Olivenöl zu verwenden und ersetzten es durch billige und ungesunde Alternativen wie Palmöl. Hunderte von Familien verzichteten aufgrund der hohen Preise für Bratöl auf jegliche Art frittierter Speisen – die einen festen Bestandteil der syrischen Küche darstellen - und stellten nun auf andere Zubereitungsarten um. Damit verschwand auch die Moona - das Einlagern und Einwecken von Essen - eine berühmte Tradition in Syrien, die einen grundlegenden Teil der täglichen Mahlzeit ausmacht und verderbliche Produkte in haltbare Lebensmittel verwandelt, mit all ihren Zubereitungsritualen aus den meisten Haushalten. Essiggurken, Keshek - ein berühmtes traditionelles Gericht aus Joghurt und Burghul - aber auch Pfefferpaste, Käse, Erbsen, Saubohnen und Weinblätter, waren nicht mehr in den Vorratskammern syrischer Familien zu finden.
Darüber hinaus gaben viele Familien die traditionelle Herstellung von Feiertags-Süßigkeiten auf, die sie mit ihren Nachbarn teilten, aber auch das rituelle Schlachten von Tieren als Opfer und Gelübde an einigen religiösen Feiertagen und Anlässen.
Viele Kinder wachsen heute auf, ohne viele der berühmten traditionellen syrischen Gerichte zu kennen, die früher gesellschaftliche Rituale und Feiern begleiteten und die heute vom Aussterben bedroht sind, weil die Menschen sich ihre Zubereitung schlichtweg nicht leisten können. Syrer*innen, die früher stolz auf ihre Gastfreundschaft waren, können jetzt keine Gäste empfangen, weil sie um ihr tägliches Brot kämpfen.
Suche nach Alternativen
Um mit den harten Lebensbedingungen zurecht zu kommen, haben die Menschen eine bescheidene Alternative geschaffen, die ihnen helfen soll, zu überleben. Dazu gehört das Anpflanzen eigener Produkte auf ungenutzten Leerflächen vor den eigenen vier Wänden oder auf dem Balkon in alten Töpfen und anderen Gefäßen wie beispielsweise Konservendosen. Zierpflanzen mussten saisonalem Gemüse Platz machen, das gleich verzehrt oder eingelegt werden kann. Ghasan, ein 45-jähriger Angestellter des öffentlichen Dienstes im Damaszener Vorort Jdaydet Artooz, erklärt seine Erfahrungen:
„Ich wohne im Erdgeschoss. Vor Jahren habe ich den acht Quadratmeter großen Spielplatz vor meinem Haus in einen schönen Blumengarten umgewandelt. Nach den sich verschlechternden Lebensbedingungen und dem starken Anstieg der Gemüsepreise, mussten dieser jedoch Gemüse wie Tomaten, Gurken, Zucchini, Kartoffeln, Salat, Auberginen, Zwiebeln, Minze und Petersilie weichen. Ich habe dem Boden einige organische Düngemittel hinzugefügt und stellte einige zusätzliche Töpfe auf, um den verfügbaren Platz bestmöglich zu nutzen, sodass ich ein gewisses Maß an Selbstversorgung erreicht habe.“
Der 52- jährige Abu Ahmad lebt mit vier anderen Familienmitgliedern im obersten Stockwerk eines Hauses in Zabadani, wo er alte Kisten benutzte, um das Dach des Gebäudes in einen Dachgarten zum Anpflanzen von Gemüse umzuwandeln. Obwohl er sich über die Menge an Arbeit beschwerte, die es braucht, um die Erde auf das Dach des Gebäudes zu bringen und sich um die Pflanzen zu kümmern, war er der Meinung, dass die Ergebnisse die Anstrengungen wert waren. Er fühlt sich jetzt weniger abhängig vom Kauf von Gemüse in Geschäften.
Neue Lösung für das Transportproblem
Der Anstieg der Transportkosten und die verschärfte Kraftstoffkrise hat viele Menschen dazu veranlasst nach Alternativen zum gewohnten Pendeln zu suchen, da sie ihre täglichen Fahrtkosten nicht mehr decken konnten. Während einige weitaus früher aufstehen, um zu Fuß zur Arbeit zu kommen, taten sich andere mit weiteren Personen zusammen und teilten sich die Taxikosten, um etwas Geld zu sparen. Auch wenn dies längere Wartezeiten mit sich brachte, um genügend Passagiere zu finden, mit denen sie sich das Taxi teilen konnten.
Außerdem bezahlten einige Fahrgäste als solidarische Geste das Taxi für andere, die auf der Straße warteten, wenn sie in die gleiche Richtung fahren wollten. Gleiches galt für einige private Autobesitzer, die vorschlugen, Menschen zur Arbeit mitzunehmen.
Andere Besitzer*innen privater Autos, deren finanzielle Situation sich so verschlechtert hatte, dass sie sich den Treibstoff für ihre Autos nicht mehr leisten konnten, verwandelten ihre Wagen in informelle Taxis und bieten auf Plätzen und an Busbahnhöfen Menschen an, sie gegen eine Gebühr zu fahren. Ihre Preise liegen unter denen der offiziellen Taxis. Auch Motorradbesitzer*innen agieren als Taxis und gelten als das mit Abstand billigste Transportmittel.
Neue Phänomene
Fußgänger*innen wurden auf der Straße oft von einfachen Leuten angehalten, die sie baten, ihnen Medikamente, eine Mahlzeit oder eine Busfahrt zu bezahlen. Manche baten auch um eine Zigarette oder um ein Stück Kuchen.
Am frühen Morgen sind die Bürgersteige von Damaskus und seinen ländlichen Gebieten überfüllt mit vielen armen Frauen, die Käse, Milch, Eier, einige Gemüsesorten und Kräuter sowie hausgemachte Produkte auf den Gehwegen verkaufen. Sie sitzen stundenlang in der Sonne und preisen ihre Waren an. Sie verhandeln mit Kunden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies ist bis zu einem gewissen Grad ein neues Phänomen. Es war traditionell nicht weit verbreitet, Frauen zu finden, die diese Rolle des Verkaufens in diesem Ausmaß ausübten.
Seit Beginn der Pandemie lassen sich immer mehr Menschen auf den Bürgersteigen nieder, um die Hilfsgüter, die sie von Wohltätigkeitsorganisationen erhalten haben, sowie Obst und Gemüse, Tee, Kaffee, hausgemachte Süßigkeiten, Kekse, Kaugummi und andere Waren zu verkaufen, obwohl der Erlös dieser Verkäufe fast nichts einbringt..
Das traurigste Phänomen, das durch die Pandemie deutlich zugenommen hat, ist die hohe Zahl von Kindern und Erwachsenen, die im Müll nach Essensresten, Plastikflaschen oder anderen Materialien suchen, die sie weiterverkaufen können. Es kommt selten vor, dass jemand an einer Mülltonne vorbeikommt, ohne dass jemand darin gräbt, leider auch Frauen und junge Mädchen.
Mohamed, ein 16-jähriger Analphabet, dessen Vater vor einigen Jahren gestorben ist, versucht auf diese Weise seine Familie zu ernähren. Er spricht über seinen täglichen Kampf bei dieser Arbeit:
„Ich wache um fünf Uhr morgens mit meiner Mutter und meinen beiden Brüdern auf. Wir suchen alle Mülltonnen in der Gegend auf, um Plastik, Pappe, Glas, Metall, Nylon und andere Wertstoffe herauszuholen. Dann sortieren wir alle Materialien separat in einzelne große Säcke. Diese sammeln wir an einem Ort. Dort werden sie mittags von einem Zwischenhändler mit seinem Auto abgeholt. Er wiegt die Säcke und bezahlt uns dann je nach Gewicht aus. Abends arbeiten wir manchmal für ein paar Stunden in Vierteln, in denen Cafés und Fastfood-Restaurants große Mengen Müll wegwerfen, vor allem Pappe und Plastik. Wir sammeln alles was wir finden und dann tragen wir die vollen Taschen in einem kleinen Karren oder auf dem Rücken, falls im Karren kein Platz mehr ist. Wir bringen sie dann in eines der Lagerhäuser am Stadtrand, das diese Materialien an die Besitzer*innen von Fabriken und Recyclinganlagen weiterverkauft.“
Auch wenn die syrischen Behörden das gesellschaftliche Leben wieder zulassen, zeigen die aufgrund von Covid-19 verhängten Maßnahmen ihre Auswirkungen. Dazu kommen die ohnehin schwierigen Umstände in und um Syrien, die für schreckliche Lebensbedingungen in den vom Regime kontrollierten Gebieten sorgen. Die Situation verschlechtert sich zusehends, ohne dass Hoffnung auf Besserung besteht. Es hat den Anschein, dass den Syrer*innen zum Überleben kein anderer Ausweg bleibt, als sich kontinuierlich an die katastrophale Situation anzupassen. Zumal seitens des Staates nicht mit Unterstützung zu rechnen ist.