Aserbaidschan - Wenn Müll vom Balkon fliegt und die Geburtenzahlen zurückgehen

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Aserbaidschan

Aserbaidschan - Wenn Müll vom Balkon fliegt und die Geburtenzahlen zurückgehen

Nika Musavi

Beim Versuch, die Begleitumstände der COVID-19-Pandemie in Aserbaidschan in einem Roman oder Film wiederzugeben, böte sich als passendes Genre weniger eine postapokalyptische Erzählung über ein schreckliches Virus an, als eine von antiutopischen Elementen durchsetzte tragikomische Farce. Zwar überstand Aserbaidschan die Infektionswellen besser als die Mehrzahl der Nachbarländer – trotz weiter ansteigender Fallzahlen –, dafür verschärfte die Pandemie aber ohnehin vorhandene Probleme: von der Korruption bis hin zu Menschenrechtsverletzungen. Die Bevölkerung klagte weitaus weniger über das Coronavirus als solches, als über die ergriffenen Gegenmaßnahmen.

Das Jahr 2020 begann in Aserbaidschan, wo es in der Staatsführung seit fast 30 Jahren keinen Wechsel gibt, mit vorgezogenen Parlamentswahlen. Gewählt wurde am 9. Februar. Viele Oppositionelle und politische Aktivist*innen hatten große Erwartungen. Erstmals traten Feministinnen, Linke aus der jüngeren Generation und andere Progressive zur Wahl an, in der Hoffnung, dass wenigstens irgendwer die nötige Stimmanzahl für ein Mandat erreicht. Letztlich blieb alles beim Alten: Die überwiegende Mehrheit der Abgeordnetensessel ging entweder an Vertreter*innen der machthabenden Partei Yeni Azərbaycan (Neues Aserbaidschan), oder aber an formal unabhängige und gleichzeitig der Staatsführung gegenüber loyal gesinnte Kandidat*innen. Während die Opposition mit der Anfechtung der Wahlergebnisse befasst war und deren Annullierung forderte, was die Regierung schlichtweg ignorierte, schlich sich das Coronavirus munter aus dem Iran ein.

Die allererste Infektion in Aserbaidschan wurde am 28. Februar 2020 erfasst. Es handelte sich um einen russischen Staatsbürger, der aus dem Iran eingereist war. Am Folgetag wurde das Virus bei zwei aserbaidschanischen Staatsbürgern festgestellt, die ebenfalls aus der benachbarten islamischen Republik zurückgekehrt waren, woraufhin die Grenze zum Iran geschlossen wurde. Kurz danach wurden der komplette Grenzverkehr auf dem Landweg und sämtliche Flugverbindungen eingestellt.

Am 23. März erfolgten „besondere Eindämmungsmaßnahmen“, deren Vorgaben jedoch widersprüchlich ausfielen und inkonsequent umgesetzt wurden und sich ständig änderten. Bei den Menschen entstand bald der Eindruck, dass die Behörden über keinerlei Plan verfügten und nach dem Prinzip learning by doing vorgehen.

So blieb die Metro in Baku beinahe ein ganzes Jahr lang geschlossen. Busse hingegen fuhren weiterhin, allerdings mit doppelter Auslastung. An den Haltestellen bildeten sich riesige Schlangen und im Inneren der Busse standen die Passagiere so dicht gedrängt, dass nicht nur eine erhebliche Wahrscheinlichkeit bestand sich mit dem Coronavirus anzustecken, sondern gleich dazu noch mit Herpes und Typhus. 

Ein anderes Beispiel für die chaotischen Verhältnisse betrifft die finanzielle Unterstützung für jene, die im Zuge der mehrmals für längere Zeiträume verhängten Lockdowns, ihre Arbeit verloren haben. Die Regierung legte einen monatlichen Satz von 112 Dollar fest – weniger als das offizielle Existenzminimum. Doch waren die Bezugsvoraussetzungen wenig durchdacht. So konnten Langzeitarbeitslose Bezüge erhalten, wohingegen Menschen, die wegen der Pandemie ihre Arbeit verloren hatten, oft Gefahr liefen eine Absage zu bekommen aufgrund von eigenem Besitz oder weil jemand in ihrer Familie über ein Auto verfügt. Im Übrigen wurde kein Ausnahmezustand im Land verhängt, der die vielfältigen Verbote legitimiert hätte, insbesondere die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das bedeutet, sämtliche Verbote widersprachen den gesetzlichen Vorgaben.

Zu viel ist in den vergangenen anderthalb Jahren in Aserbaidschan passiert, darunter der Krieg mit Armenien, währenddessen das Coronavirus völlig in Vergessenheit geriet. An dieser Stelle seien nur einige der unzähligen Ereignisse von unterschiedlicher Tragweite und Absurdität erwähnt, die es erlauben, sich vom Verlauf der Pandemie, als auch von der Gesamtsituation im Land einen Eindruck zu verschaffen.

 

Müllaufstand

Der erste komplette Lockdown mit den insgesamt härtesten Einschränkungen wurde im April 2020 verhängt. In Baku und einigen weiteren Großstädten blieb alles geschlossen bis auf Lebensmittelläden und Apotheken. Einwohner*innen war es nur mit einer Arbeitsbescheinigung erlaubt, sich frei zu bewegen. Auf die wiederum hatten nur bestimmte Beschäftigte einiger weniger Bereiche ein Anrecht. Alle anderen durften das Haus nur für Arztbesuche, Einkäufe, den Gang zur Apotheke oder Beerdigungen naher Angehöriger verlassen. Dafür war es erforderlich, eine SMS an eine bestimmte Nummer zu schicken, um eine digitale Erlaubnis mit dreistündiger Gültigkeit zu erhalten. Bei Verstößen wurden Strafen verhängt, wobei die Polizei durch grobes Verhalten und Amtsmissbrauch auffiel, was die Bevölkerung noch mehr gegen die Ordnungshüter*innen aufbrachte, für die sie ohnehin keinerlei Sympathien hegt.

Gegen Ende April 2020 sanken die Infektionszahlen und Anfang Mai wurden fast alle Eindämmungsmaßnahmen mit einem Schlag aufgehoben. Die Folgen davon ließen nicht lange auf sich warten: Bereits einen Monat später setzte die zweite Welle ein.

Anfang Juni wartete die Regierung mit einer neuen Methode auf – dem „Sonntags-Lockdown“. An den Wochenenden unterlagen die Bewohner*innen größerer Städte einem gänzlichen Ausgangsverbot, der sogar den Gang zu Mülltonne beinhaltete. Eben dieser Umstand erwies sich als fatal. Während der Sommerhitze waren die Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt zusammen mit dem sich innerhalb von zwei Tagen ansammelnden Hausmüll und beobachteten von ihren Balkonen aus, wie die Polizei im Gestrüpp jene aufspürte, die sich nicht an die Regeln hielten. Letztlich erreichte die Anspannung ein solches Ausmaß, dass Bewohner*innen eines großen Wohnhauses in Baku von ihren Balkonen herab Uniformierte mit vollen Müllbeuteln bewarfen. Am nächsten Morgen stürmten Spezialeinheiten das Haus, zerrten die vermeintlich Übeltäter vom Vorabend aus den Betten und führten sie direkt im Schlafanzug ab. Die Szene erinnerte eher an einen Sondereinsatz gegen gemeingefährliche bewaffneteTerrorgruppen. Bei einem wesentlichen Teil der Gesellschaft rief der Vorgang eine Schockreaktion hervor, doch gleichzeitig spaltete er sie in zwei gegensätzliche Lager: Die einen empörten sich über die ungerechtfertigte Brutalität der Polizei, die anderen zuckten gleichgültig mit den Schultern.



Die im Ausland Vergessenen

Von Beginn der Pandemie an haben sich aserbaidschanische Arbeitsmigrant*innen aus ganz Russland in Dagestan an der Grenze zu Aserbaidschan versammelt, um von dort nach Hause zu fahren. Aber sie trafen auf komplett verschlossene Grenzübergänge. Die aserbaidschanische Regierung verweigerte ihnen zunächst die Einreise, bis sie schließlich für Kleingruppen grünes Licht erteilte. Doch es kamen immer neue Menschen hinzu. Sie hausten in Zelten in Erwartung ihrer Rückholung, die sich in die Länge teilweise sogar über Monate hinzog. Mitte Juni 2020 eskalierte die Situation. Etliche der Gestrandeten machten sich demonstrierend auf zur Grenze mit der Forderung durchgelassen zu werden. Russische Sicherheitskräfte versperrten ihnen den Weg und setzten Tränengas und Schlagstöcke ein. Gegen dieses Vorgehen warfen Protestierende Steine und andere Gegenstände. Auf beiden Seiten gab es einige Verletzte. Doch das Problem blieb weiterhin bestehen: Sogar ein Jahr später, im Juni 2021, warteten immer noch einige Dutzend in einem Kinderferienlager untergebrachte aserbaidschanische Staatsbürger*innen darauf, endlich nach Hause reisen zu dürfen.

Nach offiziellen Angaben evakuierte Aserbaidschan über 7000 Menschen, doch ging der Prozess sehr langsam vonstatten und die Regierung legte kein besonderes Interessen an den in Dagestan Gestrandeten an den Tag. Die Behörden in Dagestan bemühten sich ihrerseits zwar den ungebetenen Gästen unter  die Arme zu greifen, aber ihre Geduld riss bereits vor einem Jahr. Unaufhörlich und mit mäßigem Erfolg drängten sie Aserbaidschan, das Tempo zu beschleunigen.    

 

Hochzeitstumult

Für einen Teil der aserbaidschanischen Bevölkerung ergab sich durch die nicht enden wollenden Eindämmungsmaßnahmen noch ein weiteres ernsthaftes Problem – Hochzeitsfeiern wurden verboten. Das erklärt sich aus dem Umstand, dass an einer durchschnittlichen Hochzeitsfeier in Aserbaidschan gut und gerne 300 Personen teilnehmen. Natürlich stand die Eheschließung an sich nie unter Verbot, aber Heiraten ohne Feier gilt in Aserbaidschan als regelrecht verwerflich. Viele Paare sahen sich demnach dazu gezwungen, das Familienleben auf die lange Bank zu schieben bis zum Ende der Pandemie. Das zeigen auch die Geburtenzahlen: Nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde gab es im Jahr 2019 insgesamt 141 179 Geburten, im Jahr 2020 nur noch 126 571. Im ersten Halbjahr 2021 kamen 56 000 Babys auf die Welt. 

Auf das „Hochzeits-Veto“ geht einer der lächerlichsten politischen Skandale des vergangenen Sommers zurück. Während gewöhnliche Sterbliche besserer Zeiten entgegenfieberten, sorgte der ehemalige Leiter der Präsidialadministration Ramiz Mehdiyev – einer der einflussreichsten Personen im Staatsapparat und Gerüchten nach eine Art „grauer Kardinal“ – dafür, dass seine Enkelin im Verborgenen heiraten konnte. Die Feier fiel deshalb aber nicht weniger luxuriös aus. Auf der Gästeliste standen ebenfalls durchweg hochrangige Persönlichkeiten. Nachdem Foto- und Videoaufnahmen von den Feierlichkeiten ins Internet gelangt waren, mussten viele von ihnen Bußgelder entrichten. Der Vater der Braut (ein Ex-Abgeordneter) und der Vater des Bräutigams (Oberst des staatlichen Sicherheitsdienstes) wurden gar zu fünfzehn Tagen Administrativhaft verurteilt. Anfangs versuchten die Behörden mit aller Kraft den Vorfall unter den Tisch zu kehren. Doch aufgrund der öffentlichen Entrüstung, ließ sich der Vorfall nicht mehr kleinreden. Allerdings wird gemunkelt, dass sich hinter all dem eine politische Intrige verbirgt, um  Ramiz Mehdiyev endgültig seines Einflusses zu berauben.

 

COVID-Schmiergelder

Korruption im aserbaidschanischen Gesundheitswesen, wie auch in etlichen weiteren Bereichen, gilt in der öffentlichen Wahrnehmung längst als unvermeidliches Übel fast schon natürlichen Ursprungs. In etwa vergleichbar mit dem allzu trockenen Klima. In staatlichen Krankenhäusern macht sich dieses Phänomen im Regelfall dadurch bemerkbar, dass neben der Bezahlung einer Operation allen Beteiligten – vom zuständigen Arzt bis zur Stationshilfe – regelmäßig Geld zugesteckt werden muss, damit dem Patient oder der Patientin die nötige medizinische Behandlung und Pflege zuteilwird.

Dabei kostete die Behandlung im Fall einer Erkrankung an COVID-19 offiziell nichts. Wer allerdings der Meinung anhing, dass wenigstens in dieser kritischen Situation Schmiergelder überflüssig wären, irrte. Im April 2021 wurden der Leiter einer Corona-Klinik, der Chefarzt eines Hospitals des technischen Hilfswerks und ein hochrangiger Mitarbeiter der Agentur für medizinische und soziale Expertise wegen Bestechlichkeit festgenommen. Die Strafermittlungen ergaben, dass die drei Personen von den Angehörigen behandelter Patient*innen Geld für Krankenhauseinweisungen, eine bessere Behandlung oder eine komfortablere Unterbringung gefordert hatten - im Schnitt etwa 2000 Dollar.

 

Impfstoffe zur Auswahl und gefälschte COVID-Ausweise

Lob für die aserbaidschanischen Behörden ist hingegen in einer Sache angebracht, nämlich für die Impfkampagne. Aserbaidschan startete damit als erstes Land im Südkaukasus im Januar 2021. Anfangs stand nur das chinesische Vakzin CoronaVac zur Verfügung, zum Sommer hin erweiterte sich die Auswahl auf Sputnik, AstraZeneca und Pfizer. Allerdings hielt sich der Andrang zunächst in Grenzen, bis die Regierung strenge Vorgaben erließ: 80 Prozent der Beschäftigten im Privatsektor, öffentlicher Einrichtungen und Institutionen, Firmen etc. sowie Studierende über 18 Jahre müssen entweder ein Impfzertifikat oder aber einen Nachweis über eine überstandene COVID-19-Erkrankung vorweisen. Zudem braucht es seit dem 1. September auch für den Besuch von Einkaufszentren, Restaurants und Hotels einen entsprechenden Nachweis.

Der Effekt blieb nicht aus: Vor den Impfstellen bildeten sich lange Schlangen. Gleichzeitig blühte mit dem Handel mit gefälschten COVID-Ausweisen ein neues Geschäftsmodell für Klinikangestellte auf. Solche Nachweise sind ab 88 Dollar zu haben. In den sozialen Netzwerken erhielt dieses Thema extrem viel Raum. Auch an jeder Straßenecke hingen Angebote. Somit begann die „Einheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens“ „Händler*innen“ abzufangen und das Gesundheitsministerium forderte, auch die Käufer*innen zur Verantwortung zu ziehen.

Nach dem Stand von Ende August 2021 haben 39,3 Prozent der Gesamtbevölkerung Aserbaidschans ihre erste Impfdosis erhalten, 25,6 Prozent sind vollständig geimpft. Kinder und Jugendliche werden nicht geimpft.

In Aserbaidschan laufen Cafés, Restaurants, Läden, Einkaufszentren, Fitnessstudios sowie der Flugverkehr im Regelbetrieb. Im Juni fand sogar ein Etappenrennen der Formel-1 sowie zwei Fußballspiele der Europameisterschaft statt. Dennoch werden bestimmte Einschränkungsmaßnahmen von Monat zu Monat verlängert. Beispielsweise bleiben die Grenzübergänge auf dem Landweg geschlossen, für ausländische Staatsbürger*innen bestehen Einreisebeschränkungen, es besteht Maskenpflicht in geschlossenen Räumen und an den Wochenenden und Feiertagen steht der öffentliche Nahverkehr still, was privaten Transportdienstleistungsunternehmen entgegen kommt.

Noch im August gab es über 4000 Neuinfektionen pro Tag, was einen fast zehnfachen Anstieg innerhalb von sechs Wochen bedeutete. Mittlerweile sinken die Zahlen wieder. Doch die Bevölkerung kümmert das Infektionsgeschehen weitaus weniger, als die eingeführten COVID-Ausweise.